Ihr zylindrisches Raumschiff kreiste am Ende eines fünf Kilometer langen Raumseils aus mikroskopisch kleinen Röhrchen aus Buckyballs, künstlich erzeugten Kohlenstoffmolekülen, die wie geodätische Kugeln geformt waren. Die Buckyball-Seile waren widerstandsfähig, leicht und geschmeidig und hatten eine größere Reißfestigkeit als die stärksten Metalllegierungen. Am anderen Ende des Raumseils befand sich das Atomraketensystem mit seinem Strahlungsschild. Die beiden Module rotierten um ihr gemeinsames Zentrum und vermittelten den Forschern dadurch ein Gefühl von Schwerkraft: ein volles terrestrisches Ge, als sie die Umlaufbahn um die Erde verließen, das langsam bis zum Drittel-Ge des Mars absank, während sie den Abgrund zwischen den Planeten durchquerten. Somit würden die Forscher an die Marsschwerkraft gewöhnt sein, wenn sie landeten.
Trotz des elektronischen Fensters fühlte sich Jamie wie ein eingesperrtes Tier, wie ein Sträfling im Gefängnis. Im Raumschiff war es nie ganz still; Pumpen tuckerten, Lüfter summten, Computer piepsten. Er hörte es, wenn sich Leute drei, vier Abteile weiter unterhielten. Jeden Tag klang Trudy Halls endloses Joggen im Außenkorridor wie eine chinesische Wasserfolter, wenn sie unablässig in ihrem exakten Trab dahinstampfte.
Jamie verbrachte so wenig Zeit wie möglich in seiner Unterkunft. Er zog die Kombüse in der Ebene darüber vor. Sie war immerhin groß genug, dass sie alle acht Platz darin fanden, obwohl es dann ziemlich eng wurde. Da oben stießen sie buchstäblich immer zusammen. Auf das »Guten Morgen« folgte unweigerlich ein »Entschuldigung, tut mir Leid«. Die Kombüse fungierte auch als Besprechungsraum. Einen anderen Raum gab es nicht. Ihr Raumschiff war unter dem Gesichtspunkt der Kostenminimierung und nicht des maximalen Komforts für die Mannschaft konstruiert worden.
Trotz der Enge, oder vielleicht gerade wegen ihr, war jedermann extrem höflich. Meistens. Niemand beklagte sich über Körpergeruch oder abgedroschene Witze. Niemand spielte Disks oder Videos ab, ohne einen Ohrstöpsel zu benutzen, außer wenn alle zuhören oder zusehen wollten. Wenn sich zwei zusammentaten, um miteinander zu schlafen, hielten sie den Mund, sowohl während des Akts als auch hinterher. Meistens.
Dennoch gab es Spannungen. Possum Craig wurde ein bisschen wegen seiner Nase aufgezogen, aber Jamies Ansicht nach war er empfindlich, was seinen Status als Handwerker des Teams betraf. Er war ein ausgebildeter Wissenschaftler, wie Jamie wusste, hatte aber immer nur bei Erdölfirmen statt an Universitäten gearbeitet. Die anderen Wissenschaftler blickten unbewusst auf ihn herab.
Vijay Shektar schien permanent auf der Hut vor sexuellen Annäherungsversuchen zu sein. Bei ihrer ersten Begegnung war sie Jamie wie eine attraktive junge Frau erschienen, aber nach dem monatelangen Eingepferchtsein im Raumschaff nahm sie für ihn allmählich die Züge einer jener sinnlichen Tänzerinnen in den Schnitzereien an der Fassade eines Hindu-Tempels an. Den anderen Männern ging es offenbar genauso, aber mit ihrer scharfen Aussie-Zunge machte sie jeden Mann zur Schnecke, der es bei ihr versuchte. Es dauerte mehrere Wochen, bis Tomas Rodriguez sich endlich geschlagen gab.
Fuchida war für Jamie schwerer zu ergründen. Er war stets außerordentlich höflich und schien sich in den beengten Räumlichkeiten absolut wohlzufühlen, aber sein Blick wirkte traurig und melancholisch, als sehnte er sich nach einem unwiederbringlich verlorenen Paradies. Jamie fragte sich, was den japanischen Biologen derart beschäftigte: War es etwas in seiner Vergangenheit, das ihm zusetzte, oder machte er sich Sorgen über Dinge, die noch in der Zukunft lagen?
Die andere Biologin, Trudy Hall, wirkte sehr distanziert; sie war intelligent und fast immer freundlich, aber keineswegs kontaktfreudig. Sie ging ihrer eigenen Wege und verbrachte ihre Zeit größtenteils mit Arbeit, meistens mit Fuchida zusammen.
Anastasia Deschurowa war das genaue Gegenteiclass="underline" Stacy wirkte düster, missmutig und abweisend, aber wenn man mit ihr sprach, kam sie aus sich heraus und erwies sich als freundliche, sympathische, überaus tüchtige Frau. Sie war starkknochig und um die Mitte herum eher füllig; ihre Bewegungen waren langsam, ihre Reflexe jedoch blitzschnell. Bei einem obligatorischen Trainingsprogramm in den Badlands von Dakota hatte Jamie gesehen, wie sie mit bloßer Hand eine Feldmaus gefangen hatte, die schnuppernd in ihr Zelt gekommen war. Dann hatte sie das zu Tode erschrockene Nagetier ins Gestrüpp hinausgetragen und freigelassen.
Mit mehr als einem Dutzend Weltraumflügen für die Russen war Deschurowa die Ranghöhere der beiden Astronauten des Teams; außerdem war sie Jamies Stellvertreterin. Zusammen mit Rodriguez und im Verlauf der Wochen auch mehr und mehr mit Craig wartete sie die Ausrüstung und führte auf Geheiß der Astronomen auf der Erde die astronomischen Experimente durch.
Falls sich Rodriguez in seinem Machismo bedroht fühlte, weil er ihr unterstellt war, so ließ er es sich nicht anmerken. Tomas schien ein liebenswürdiger, unbeschwerter Bursche zu sein, obwohl Jamie sich fragte, wie lange er auf so engem Raum mit den drei Frauen zusammenleben konnte, ohne dass es Probleme gab.
Dex Trumball irritierte Jamie am meisten. Dex mit seinem großspurigen, attraktiven Grinsen und seinen geschliffenen Manieren. Ein junger Mann aus reicher Familie, der in seinem ganzen Leben noch nie um etwas hatte kämpfen müssen. Sein Vater war eine treibende Kraft bei der Finanzierung dieser Expedition gewesen, aber Dex wäre ohnehin ins Team aufgenommen worden, weil er ein so guter Geophsyiker war. Immerhin — abgeschlossenes Studium in Yale, Promotion in Berkeley, dazu brillante Arbeit über die lunaren Mascons.
Die mehrmonatige Reise zum Mars verlief weitgehend reibungslos, bis auf einen Abbruch aller Verbindungen, als sich die Hauptantenne in Reaktion auf einen fehlerhaften Computerbefehl von der Erde wegdrehte. Deschurowa und Rodriguez versuchten einen ganzen Tag lang mit jedem Programmierungstrick, den sie kannten, die Antenne zu entriegeln, aber vergeblich. Schließlich mussten die Russin und Craig in ihre Anzüge steigen und eine EVA unternehmen, um das Steuersystem der Antenne von Hand auszubauen. Anschließend programmierten sie es im Raumschiff, gingen dann erneut hinaus und setzten es wieder ein. Nichts und niemand hatte einen Schaden davongetragen, aber alle waren nervös, bis die Verbindung mit dem Kontrollzentrum in Tarawa wieder stand.
Jamie fiel allerdings auf, dass Trudy Hall aschgrau vor Anspannung war. Als er sich bei Vijay nach ihr erkundigte, erklärte ihm Shektar, sie habe der Biologin ein Beruhigungsmittel gegeben.
Das einzige andere Vorkommnis war eine Sonneneruption, in deren Folge sie dreiundfünfzig Stunden im abgeschirmten Sturmkeller des Raumfahrzeugs verbringen mussten. Trudy hatte vor Angst hyperventiliert, aber ansonsten überstanden es alle unversehrt. Trudy bekam eine Menge spöttische Bemerkungen darüber zu hören, dass sie sich eine Kotztüte vors Gesicht halten und fast zwanzig Minuten hineinatmen musste.
Dann hörte Jamie eines Nachts, als er sich zum Schlafengehen fertig machte — sie hatten etwa die Hälfte der Strecke zum Mars geschafft —, gedämpftes Lachen aus dem Abteil nebenan. Dex' Kabine.
»Was hat er denn jemals getan?«, kam Trumballs Stimme durch die dünne Trennwand zwischen ihren Abteilen. Sie klang anklagend, fast zornig. »Ich meine, worin besteht denn eigentlich sein Beitrag auf dem Gebiet der Geologie?«
Die Stimme, die ihm antwortete, war so leise und gedämpft, dass Jamie nicht mitbekam, was sie sagte. Er konnte auch nicht erkennen, wer da sprach. Es klang wie die Stimme einer Frau, fand er.
»Ich will dir sagen, was für wissenschaftliche Beiträge unser großen Indianerhäuptling geleistet hat«, fuhr Trumball fort, laut und deutlich. »Gar keine. Null. Nada.«
Er spricht von mir, erkannte Jamie.
Die Frau sagte etwas; vom Ton her klang es wie ein Einwand.
»Oh ja, klar, er hat die erste Expedition dazu gebracht, zum Grand Canyon zu fahren, und da haben sie die Flechte gefunden. Aber die Entdeckung hat nicht er gemacht, das waren die Biologinnen. Mag ja sein, dass er eine von ihnen geheiratet hat, aber nicht mal das hat er richtig hingekriegt.«