Die Frau sprach wieder, noch leiser.
»Wenn er keine Rothaut wäre, hätten sie ihn nicht zum Missionsleiter ernannt, das kannst du mir glauben«, beharrte Trumball. »Seine wissenschaftlichen Leistungen sind gleich null. Das war eine rein politische Entscheidung, mehr nicht.«
Trumball fuhr noch eine Weile fort, aber leiser; seine Worte waren jetzt zu gedämpft, als dass Jamie sie verstehen konnte.
Jamie sank auf seine Liege nieder. Er fühlte sich leer, ausgelaugt, besiegt. Trumball hat Recht, erkannte er. Meine fachlichen Leistungen waren nicht gerade überragend. Ich bin nur durch pures Glück ins Team der ersten Expedition gekommen, und jetzt bin ich Missionsleiter, weil ich alle Hebel in Bewegung gesetzt habe.
Er versuchte zu schlafen, aber es gelang ihm nicht. Denken die anderen genauso über mich? Dulden sie mich nur, weil ich bei der ersten Expedition dabei war? Oder weil ich älter bin als sie alle?
Dann hörte er die Frau kichern. Dex brachte sie mit einem »Pst!« zum Schweigen. Jamie bemühte sich, nicht zu lauschen, drehte sich auf seiner Liege um und drückte sich das schmale Plastikkissen auf den Kopf. Eine Weile blieb es still. Dann ein leises Stöhnen, fast ein Schluchzen. Jamie schloss die Augen ganz fest und versuchte durch reine Willenskraft, auch seine Ohren zu verschließen. Sie stöhnte erneut, diesmal lauter. So ging es eine Stunde lang weiter, wie es ihm vorkam.
Jamie konnte nicht mit Sicherheit sagen, wer die Frau bei Dex war, aber es klang für ihn, als wäre es Vijay.
Es dauerte mehrere Tage, bis er ihr wieder in die Augen schauen konnte. Bis er überhaupt wieder einen der anderen ansehen konnte, ohne sich zu fragen, was in dessen Kopf vorging.
Trumball konnte er jedoch gar nicht mehr ansehen. Bis zu dem Abend, an dem der Konflikt zwischen Dex und ihm zu einem offenen Streit eskalierte.
Fuchida und Hall hielten den übrigen Wissenschaftlern einen Vortrag über die neuesten Erkenntnisse, die man auf der Erde gewonnen hatte. Alle drängten sich auf den Bänken, die den langen Tisch in der Kombüse säumten. Auf den Bildschirmen am gekrümmten Schott waren Mikroaufnahmen der von der ersten Expedition zur Erde mitgebrachten marsianischen Flechtenproben zu sehen.
»Wir wussten schon vor dem Start«, sagte Trudy Hall, die am Kopfende des Tisches stand, »dass die Marsflechte in mehrerer Hinsicht erstaunliche Ähnlichkeit mit irdischen Flechten hat, sich in manchen Punkten aber auch eindeutig von ihnen unterscheidet.
Wie irdische Flechten besteht sie aus Kolonien von Algen- und Pilzgewächsen, die in einer symbiotischen Beziehung zusammenleben, die …«
»Ohne das heilige Sakrament der Ehe?«, witzelte Trumball.
Unbeirrt erwiderte Halclass="underline" »Sie reproduzieren sich ungeschlechtlich.«
»Wie frustrierend.«
»Woher willst du das wissen, wenn du's noch nie versucht hast?«
Jamie stützte die Unterarme auf den Tisch und bat leise: »Kommen wir bitte zum Thema zurück.«
Hall nickte und fuhr fort: »Das Interessanteste ist, dass sich in ihren Zellkernen Doppelstrang-Moleküle finden, die bemerkenswerte Ähnlichkeit mit unserer DNS haben.«
»Ihre genetische Programmierung«, übernahm Fuchida, während er aufstand und sich neben Hall stellte, »scheint unserem genetischen Code sehr ähnlich zu sein.«
Er zeigte auf die Computergrafik einer gewundenen Doppelhelix. »Ihre Gene setzen sich aus vier Basenpaaren zusammen, genau wie unsere.«
Jamie glaubte, ein leises Zittern in Fuchidas Stimme zu hören. Aufregung, die er zu unterdrücken versuchte?
»Du meinst, wir sind mit ihnen verwandt?«, fragte Shektar mit großen Augen und in ehrfürchtigem Ton.
»Nicht unbedingt«, antwortete Fuchida und hob ganz leicht die Hand. »Ihre Basenpaare sind anders zusammengesetzt. Unsere bestehen aus Adenin, Zytosin, Guanin und Thymin. Die marsianischen Basen sind erstaunlich ähnlich in ihrer Funktion, aber von anderer chemischer Zusammensetzung. Sie haben bis jetzt noch keine formellen Namen bekommen. Man nennt sie einfach Mars eins, Mars zwei, Mars drei und …«
»Lass mich raten«, unterbrach ihn Trumball. »Mars vier?«
Fuchida machte eine winzige Verbeugung. »Ja, Mars vier.«
»Na so was, is ja beinahe poetisch«, murmelte Possum Craig.
Während Fuchida und Hall abwechselnd zeigten, wie die marsianische DNS arbeitete, begannen Jamies Gedanken abzuschweifen. Dasselbe System zur Weitergabe der genetischen Informationen von einer Generation zur nächsten, aber eine andere chemische Struktur. Sind wir verwandt? Könnte das irdische Leben auf dem Mars entstanden sein? Oder umgekehrt?
Die anderen diskutierten bereits über denselben Punkt, stellte er fest.
»Is garantiert vom Mars zur Erde gekommen«, beharrte Craig störrisch. »Andersrum geht's nich.«
»Warum nicht?«, fragte Shektar.
»Schwerkraft«, antwortete Trumball. »Es ist viel leichter, einen marsianischen Felsbrocken abzusprengen und in Richtung Erde taumeln zu lassen, als ein Stück von der Erde abzusprengen und es zum Mars zu befördern.«
»Und der Mars ist viel näher am Asteroidengürtel«, meldete sich Rodriguez am Fußende des Tisches zu Wort. »Er wird viel öfter von Meteoriten getroffen als die Erde.«
»Ja, natürlich«, sagte Hall.
»Bei Meteoriteneinschlägen werden marsianische Felsbrocken ins All geschleudert«, fuhr Rodriguez beharrlich fort. »Manche dieser Steinklumpen kommen der Erde so nahe, dass unser Schwerefeld sie erfasst und zum Erdboden runterzieht.«
Sie stürzten sich in eine allgemeine Debatte über die Chancen, dass das Leben auf dem Mars und das auf der Erde irgendwie verwandt sein könnten. Jamie hörte nur mit halbem Ohr zu. Er sann über die Verbindungen zwischen dem Leben auf der Erde und dem Mars nach. Er vergaß Dex und dessen abfällige Bemerkungen, vergaß seine Befürchtungen, was die anderen über ihn denken mochten. Vor seinem geistigen Auge sah er die Felsenbehausung im Grand Canyon des Mars und weitere wie sie, überall in der südwestlichen Wüste.
Tief im Innern spürte er, dass es eine Beziehung gab, es musste sie geben; zwei Welten, die einander nahe genug waren, um Brüder zu sein, und die beide Leben trugen. Sie mussten miteinander verwandt sein. Irgendwann und irgendwie hatte das Leben sowohl die rote Welt als auch die blaue besiedelt. Wie lange mochte das her sein? Wie war es geschehen?
Um das herauszufinden, sind wir hier, antwortete sein rationales Ich.
»Die einheimischen Lebensformen müssten natürlich alle geschützt werden«, sagte Trumball gerade. »Vorausgesetzt, es gibt mehr als eine.«
Jamie wandte seine volle Aufmerksamkeit abrupt ihrer Diskussion zu. »Das ist doch ziemlich abwegig«, meinte Hall, »findest du nicht?«
»Nicht abwegiger, als Leben auf dem Planeten zu finden.« Trumball lehnte sich auf der Bank zurück, bis er mit den Schultern an dem gekrümmten Schott ruhte.
Shektar starrte ihn an. »Glaubst du wirklich, wir könnten die Umwelt des gesamten Planeten verändern?«
»Ihn so erdähnlich machen, dass Menschen ohne Raumanzüge rumlaufen können?« Rodriguez schaute ausgesprochen ungläubig drein.
»Warum nicht?«, gab Trumball lässig zurück. »In der Permafrostschicht gibt's massenhaft Wasser. Das wärmen wir auf, pumpen es hoch und heizen dadurch die Atmosphäre auf. Wir setzen siderophile Bakterien ein. Besäen die Atmosphäre mit blaugrünen Algen, die das Kohlendioxid in der Luft aufsaugen, und schon haben wir eine atembare Sauerstoff-Stickstoff-Atmosphäre.«
»In hunderttausend Jahren oder so«, meinte Hall.
»Nun sei doch nicht so phantasielos«, knurrte Trumball. »Es gibt Studien, die zeigen, dass sich das Ganze in einem Zeitraum von ein, zwei Jahrhunderten bewerkstelligen lässt.«