Der Mann blickte in Jamies Richtung und schien ihn zu erkennen. »Du hast hier nichts zu suchen!«, rief er wütend. »Was machst du außerhalb deines Reservats?«
Jamie erkannte den Mann. Es war Darryl C. Trumball. Und direkt hinter ihm stand sein Sohn, Dex, mit einem blasierten Grinsen im Gesicht.
Jamie schlug abrupt die Augen auf. Er schwitzte, und seine Beine hatten sich im Bettlaken verheddert. Ein paar Zentimeter über ihm war die obere Liege des Rovers, die unter Dex Trumballs Gewicht ein wenig durchhing. Jenseits des Durchgangs schliefen die beiden Frauen.
Er blinzelte und rieb sich die Augen. Er hatte geträumt, aber er konnte sich nicht mehr an den ganzen Traum erinnern. Etwas mit Menschenmassen in grellbunten Sporthemden und Badeanzügen, die über das kahle Antlitz des Mars ausschwärmten und tonnenweise leere Bierdosen und Fast-Food-Styroporpackungen in der rostroten Landschaft zurückließen. Ein verstörender Traum, dessen zentraler Bedeutungsgehalt ins Nichts entglitt, als Jamie sich die Einzelheiten ins Gedächtnis zu rufen versuchte.
Trumball war in dem Traum vorgekommen. Und Vijay Shektar, die einen knappen Bikini statt des Expeditionsoveralls trug.
Jamie schüttelte den Kopf, um die Überreste des Traums loszuwerden, und schlüpfte dann leise aus seiner unteren Koje, ohne Dex zu stören. Er warf einen verstohlenen Blick auf den jüngeren Mann; Trumballs Gesicht war friedvoll und entspannt. Keine Albträume für ihn. Auf der anderen Seite des schmalen Gangs lag Stacy Deschurowa mit dem Gesicht zur Wand; sie hatte die Knie angezogen und sich zusammengekuschelt. Auf der oberen Liege lag Trudy Hall auf dem Rücken, die Stirn leicht gerunzelt. Jamie verspürte fast so etwas wie Schuldbewusstsein, weil er sie im Schlaf betrachtete. Seelendieb, dachte er. Lass sie ihre Träume allein träumen.
Er nahm seinen zerknitterten Overall und tappte zum Waschraum. Als er wieder herauskam, waren die anderen drei allesamt wach, saßen auf den Rändern ihrer Liegen, gähnten und rieben sich den Schlaf aus den Augen.
Jamie ging nach vorn ins Cockpit und zog den Thermovorhang von der Windschutzscheibe zurück.
Und stieß einen Laut der Überraschung aus.
Der Nebel. Er hatte den Nebel vergessen, der manchmal von der Talsohle aufstieg. Jetzt, wo die Sonne erst knapp über dem östlichen Horizont stand, war das Tal von perlgrauem Dunst erfüllt, der in der morgendlichen Brise sanft wogte, wie die leise dahinplätschernden Wellen eines friedlichen Meeres, wie der leichte, rhythmische Atem einer Welt.
»Kommt her und schaut euch das an!«, rief er zu den anderen nach hinten.
Trumball war im Waschraum, aber die beiden Frauen tappten barfuß zum Cockpit.
»Oohh«, hauchte Trudy Hall. »Ist das schön!«
Stacy Deschurowa nickte und fuhr sich mit einer Hand durch das strähnige blonde Haar. »Schön ist es, das stimmt. Aber wie wollen wir da durchkommen?«
Die aufgehende Sonne brannte den Nebel weg, und Jamie erinnerte sich, dass es damals, als er den Canyon zum ersten Mal gesehen hatte, genauso gewesen war.
Nachdem sie gefrühstückt und die Motoren des Rovers gestartet hatten, machte Deschurowa sich keine Sorgen mehr, dass sie in den Nebel hineinfahren mussten.
»Bis wir da sind, hat die Sonne ihn vollständig weggebrannt«, sagte sie, während sie am Rand des Canyons entlangfuhr.
»Da ist er«, rief Jamie und zeigte hin. Sein ausgestreckter Finger stieß beinahe an die gewölbte Windschutzscheibe des Rovers.
»Ich sehe ihn«, sagte Deschurowa.
Der Erdrutsch war noch da. Jamie hatte es gewusst. Mehrere tausend Millionen Tonnen abgesackten Erdreichs verschwinden nicht einfach im Lauf von sechs Jahren, aber er verspürte einen Kitzel der Erleichterung und der Erregung, dass er noch da war, wie eine von den Göttern für sie vorbereitete Rampe, über die sie zum Grund des Canyons hinabfahren konnten.
Ein Schatten huschte über sie hinweg, und sie blickten beide nach oben. Einer der Schwebegleiter, den Rodriguez vom Basislager aus steuerte; mit seinen Kameras und seinem Radar erkundete er das Terrain vor ihnen. Jamie schaltete das Kamerabild des Schwebegleiters auf den Bildschirm an der Kontrolltafel des Rovers. Die Rampe sah noch genauso aus wie damals. Er kniff die Augen fest zusammen und versuchte, die Spuren zu erkennen, die ihre Fahrzeuge beim ersten Mal hinterlassen hatten. Aber die unermüdlichen Winde des Mars hatten sie ausgelöscht, hatten sie mit feinem, stark eisenhaltigem Sand aufgefüllt.
»Gib mir das Radarbild«, befahl Deschurowa. Die Radardaten konnten ihnen Aufschluss über die Bodenbeschaffenheit geben. Bei der ersten Expedition hatten sie einen Rover verloren, weil er in einem alten Krater voller trügerischem, feinem Staub stecken geblieben war, der das halbe Fahrzeug wie Treibsand verschluckt hatte. Jamie wusste, dass er immer noch dort war, bis zur Hälfte im Staubteich versunken. Wenn wir ihn herausziehen könnten, hätten wir ein zusätzliches Fahrzeug, mit dem wir arbeiten könnten. Jamie tat die Idee mit einem Kopfschütteln ab. Wir sind hier, um die Flechte unten am Boden des Canyons zu studieren, nicht, um alte Ausrüstungsgegenstände zu bergen.
»Vorsichtig jetzt«, murmelte Jamie, als Deschurowa den Rover zentimeterweise über den Canyonrand bugsierte. Sie schaute starr nach vorn, den steilen Hang hinunter, obwohl ihr Blick alle paar Sekunden zum Radarschirm zuckte, wie der einer unerfahrenen Pianistin, die zwischen ihren Noten und der Tastatur hin und her schaut.
»Nur die Ruhe«, flüsterte Deschurowa halb zu sich selbst.
Jamie spürte die Erschütterung, mit der jeder Rädersatz über den Randfelsen holperte. Er starrte durch die Windschutzscheibe nach draußen und fühlte sich beinahe wie in einem Flugzeug, das zum Sturzflug ansetzte. Deschurowa war übers Lenkrad gebeugt und hielt es mit beiden Händen umklammert. Ihre Knöchel waren nicht weiß, wie Jamie sah, aber ihr Griff war auch alles andere als locker.
»Schaut euch das an!«, ertönte Trumballs aufgeregte, beinahe schon ängstliche Stimme hinter Jamies Sitz. »Als säße man in einem manövrierunfähigen U-Boot, das mit der Nase voran in die Tiefe sackt!«
»Kein besonders schöner Vergleich«, bemerkte Trudy Hall. Jamie warf den beiden über die Schulter hinweg einen Blick zu. Trumball sah aufgeregt aus, wie ein Junge, der gleich einen Bungeesprung von einer hohen Brücke machen würde. Hall wirkte kühl, fuhr sich aber immer wieder mit der Zunge über die Lippen. Nach einer kurzen, angespannten Stille richtete Deschurowa sich aus ihrer verkrampften Haltung auf und grinste. »Kinderspiel.« Die anderen entspannten sich alle drei. Dass Jamie den Atem angehalten hatte, merkte er erst, als er ihn mit einem großen Seufzer der Erleichterung ausstieß.
»Die einzige gefährliche Stelle, auf die wir gestoßen sind, war dieser mit Staub gefüllte Krater«, sagte er, als hätte Deschurowa das nicht schon tausendmal gehört. »Obwohl es andere gefährliche Stellen geben könnte, an denen wir vielleicht bloß zufällig vorbeigefahren sind«, setzte er hinzu.
»So ist's richtig«, sagte Trumball. »Man muss die Sache positiv sehen.«
»Ach, halt den Mund, Dex«, sagte Hall verärgert. Sie klappte den Notsitz hinter Jamie herunter und ließ sich darauf nieder, um ihre langsame Abfahrt zur Talsohle etliche Kilometer voraus zu verfolgen. Trumball ging wieder zum rückwärtigen Ende des Moduls.
»Willst du dir das nicht anschauen?«, rief Hall zu ihm nach hinten.
»Nicht bloß anschauen«, rief er zurück. »Ich möchte sicherstellen, dass es in die VR-Datenbasis aufgenommen wird. Die Leute daheim flippen aus, wenn sie das sehen!«
»Wird alles aufgezeichnet«, sagte Deschurowa.
»Will's nur überprüfen«, erwiderte Trumball. »Jawoll. Jedes Pixelchen kommt rein, live und in Farbe. Fehlt nur noch, dass Tars Tarkas da draußen steht und uns begrüßt.«