Jamie stand im Innern des kuppelförmigen Habitats neben der Reihe leerer Ausrüstungsschränke gleich bei der Luftschleuse und nahm die kleine Steinskulptur von dem Bord, wo sie sechs Jahre lang gewartet hatte: ein winziger, pechschwarzer Obsidian in der Totemform eines zusammengekauerten Bären. Eine Miniaturpfeilspitze aus Türkis mit einer kleinen weißen Adlerfeder darauf war mit einem Lederband auf seinen Rücken gebunden. Jamie hielt den Navajo-Fetisch in der behandschuhten Hand.
»Was ist das?«, fragte Stacy Deschurowa.
Jamie hörte ihre kräftige, muntere Stimme in seinen Helmlautsprechern. Keines der acht Mitglieder der zweiten Marsexpedition hatte schon den Raumanzug ausgezogen; sie hatten nicht einmal das Helmvisier hochgeklappt. Sie standen in einem groben Halbkreis vor der Innenluke der Luftschleuse, acht gesichtslose Männer und Frauen in klobigen, hartschaligen Raumanzügen.
»Ein Navajo-Fetisch«, antwortete Jamie. »Mächtiger Zauber.«
Dex Trumball schlurfte unbeholfen zu Jamie. Seine dicken Stiefel stapften schwer über den Kunststofffußboden des Habitats.
»Hast du das von der Erde mitgebracht?«, fragte Trumball beinahe anklagend.
»Bei der ersten Expedition«, sagte Jamie. »Ich hab's hier gelassen, damit es den Ort während unserer Abwesenheit beschützt.«
Trumballs Gesicht war hinter der getönten Sichtscheibe seines Helms verborgen, aber sein Ton ließ keinen Zweifel daran, was er davon hielt. »Richtig starke Medizin, hm?«
Jamie unterdrückte einen Anflug von Ärger. »Ganz recht«, sagte er und zwang sich, mit ruhiger, gelassener Stimme zu sprechen. »Die Kuppel ist noch da, nicht wahr? Sechs Jahre, und sie steht noch und wartet darauf, dass wir sie wieder bewohnen.«
Possum Craig sagte mit seinem ausdruckslosen, näselnden texanischen Akzent: »Pumpen wir erst mal 'n bisschen atembaren Sauerstoff hier rein, bevor wir uns gegenseitig auf die Schulter klopfen.«
»Sechs Jahre«, murmelte Trumbull. »So lange liegt das Ding schon hier.«
Sechs Jahre.
Selbst die Entdeckung von Leben, das sich verzweifelt an die Felsen tief unten im Grand Canyon des Mars klammerte, hatte diese Rückkehr zum Roten Planeten nicht leicht oder einfach gemacht. Es hatte sechs Jahre gedauert, die Menschen, die Ausrüstung und — am allerwichtigsten — das Geld zusammenzubekommen, um diese zweite Marsexpedition zu realisieren.
Zu seiner Überraschung und seinem Ärger hatte Jamie Waterman mit jedem Molekül Kraft und Geschick, das er besaß, um einen Platz bei der zweiten Expedition kämpfen müssen. Aber wie es schien, war der Fetisch seines Großvaters wirklich mächtig gewesen: Nun war er doch noch zum Mars zurückgekehrt.
Nach fünf Monaten im All zwischen den beiden Welten, nach einer Woche im Orbit um den Mars, nach dem Flammenritt durch die dünne, von ihrem feurigen Abstieg bis zur Weißglut aufgeheizten Marsatmosphäre waren Jamie Waterman und die anderen sieben Mitglieder der Expedition schließlich auf den rostroten, sandigen Boden des Mars hinausgetreten.
Fünf Männer und drei Frauen, alle in unförmige Raumanzüge gehüllt, die ihnen das Aussehen tapsiger, auf die Hinterbeine aufgerichteter Schildkröten verliehen. Sämtliche Anzüge waren weiß, mit farbkodierten Streifen an den Ärmeln, damit man den jeweiligen Träger leicht identifizieren konnte. Jamies drei Streifen waren feuerwehrrot.
Das von der ersten Expedition zurückgelassene Habitat sah unverändert aus. Die Kuppel war noch aufgeblasen und schien die sechsjährige Wartezeit unversehrt überstanden zu haben.
Als Erstes stapften die Forscher zur Luftschleuse der Kuppel und gingen hinein. Nachdem sie sich im leeren Innern kurz umgeschaut hatten, widmeten sie sich ihren jeweiligen Aufgaben und überprüften das Lebenserhaltungssystem. Falls die Kuppel unbrauchbar war, würden sie während der gesamten anderthalb Jahre ihres Aufenthalts auf dem Mars in dem Raumschiffmodul wohnen müssen, mit dem sie zum Roten Planeten geflogen und auf ihm gelandet waren. Keiner von ihnen wollte das. Fünf Monate in dieser Blechdose waren mehr als genug gewesen.
Die Kuppel war intakt, ihre Lebenserhaltungsanlage funktionierte hinlänglich, und der Atomkraftgenerator lieferte noch genug Strom für das Habitat.
Ich wusste, dass es so sein würde, sagte sich Jamie. Der Mars ist eine sanfte Welt. Er will uns keinen Schaden zufügen.
Craig und Tomas Rodriguez, der von der NASA gestellte Astronaut, warfen den Sauerstoffgenerator an. Nach sechs Jahren Untätigkeit machte er zunächst Mucken, aber dann bekamen sie ihn schließlich in Gang, und er begann, atembaren Sauerstoff aus der Marsatmosphäre zu gewinnen und mit dem Stickstoff zu mischen, der die Kuppel in den vergangenen sechs Jahren prall gefüllt hatte.
Die übrigen Forscher gingen hinaus und bauten die Videokameras und Virtual-Reality-Geräte auf, mit denen sie ihre Ankunft auf dem Mars aufzeichnen und die Nachricht zur Erde übermitteln wollten. Mit dem Steinfetisch in der Oberschenkeltasche seines Raumanzugs erinnerte Jamie sich an den politischen Aufruhr, den er verursacht hatte, als die erste Expedition den Boden des Mars betreten und er ein paar Worte auf Navajo gesagt hatte, statt die von der Presseabteilung der NASA für ihn ausgearbeitete steife, formelle Ansprache zu halten.
Und er erinnerte sich an noch etwas: an die alte Felsenbehausung in einer Nische hoch oben in der steil aufragenden Felswand des Grand Canyon, die er gesehen hatte. Aber er wagte nicht, das den anderen gegenüber zu erwähnen.
Noch nicht.
HOUSTON: DAS ERSTE TREFFEN
Jamies erste Begegnung mit dem Wissenschaftlerteam der Expedition hatte in einem engen, kleinen, fensterlosen Konferenzraum im Johnson Space Center der NASA in der Nähe von Houston stattgefunden. Die beiden Frauen und drei Männer waren aus Tausenden von Kandidaten ausgesucht worden; ihre Namen hatte man vor ein paar Wochen bekannt gegeben. Jamie selbst war erst vor zwei Tagen zu ihrem Leiter ernannt worden.
»Ich weiß, was Sie durchmachen«, sagte Jamie zu den fünfen.
Nun lernte er die vier Wissenschaftler und die Ärztin der Expedition zum ersten Mal persönlich kennen. Während der Monate ihres Trainings, in denen Jamie um seinen Platz im Team der zweiten Marsexpedition gekämpft hatte, hatte er mit jedem von ihnen per E-mail korrespondiert und per Bildtelefon gesprochen, aber er war noch nie im gleichen Raum mit ihnen gewesen.
Jetzt stand er ein wenig nervös am Kopfende des schmalen Konferenztisches und kam sich wie ein Ausbilder vor, der ein hoch begabtes Studentenquintett vor sich hatte: jünger, selbstbewusster, sogar qualifizierter als er. Die vier Wissenschaftler saßen an dem wackligen, rechteckigen Tisch und sahen ihn an. Die Ärztin und Psychologin, eine exotisch aussehende Hindu-Frau mit bitterschokoladebrauner Haut und straff nach hinten gekämmtem, mitternachtsschwarzem Haar saß am Fußende des Tisches.
Sie trugen alle den korallenrosa Missionsoverall mit dem über der Brusttasche befestigten Namensschild. Die Ärztin, V.J. Shektar, hatte ein buntes Halstuch umgelegt. Sie betrachtete Jamie mit großen, kohlschwarzen Mandelaugen.
Keiner der anderen hatte die Standarduniform mit irgendwelchen Zusätzen versehen, außer C. Dexter Trumball, auf dessen Schultern Tuchabzeichen genäht waren: eines zeigte das Mikroskop- und-Teleskop-Logo des Internationalen Universitätskonsortiums, das andere das fliegende T von Trumball Industries.
»Wir werden mehr als drei Jahre lang zusammenleben«, fuhr Jamie fort, »wenn man Ihre restliche Trainingszeit und die Mission selbst mit einrechnet. Ich fand, es war höchste Zeit, dass wir einander kennen lernen.«
Jamie hatte hart darum gekämpft, bei der zweiten Expedition dabei sein zu dürfen. Er wäre froh gewesen, wenn man ihn als Wissenschaftler ins Missionsteam aufgenommen hätte. Stattdessen konnte er nur mit einsteigen, indem er die Aufgaben des Missionsleiters übernahm.