»Okay, Jamie«, sagte Deschurowa keuchend. »Nach dir.«
»Du bleibst draußen, Stacy«, ermahnte er sie, »bis wir uns drinnen umgesehen haben.«
»Geht klar, Chief«, sagte sie.
Jamie fragte sich, ob sie Trumballs Spitznamen für ihn unbewusst oder mit Absicht verwendete. Er zwängte einen Stiefel auf die mittlere Sprosse der kurzen Leiter und hielt sich mit beiden Händen an den Rändern der offenen Luke fest. Dann zog er sich in die Schleuse, wobei er ganz nebenbei feststellte, dass die Gewöhnung an die Drittelschwerkraft des Mars ihre Nachteile hatte: Es kostete ihn echte Anstrengung, sich samt Anzug und Tornister hochzuhieven.
Die manuelle Steuerung für die Innenluke befand sich direkt unter der elektrischen Kontrolltafel. Anfangs klemmte sie genauso, aber dann gelang es Jamie, das Rad zu drehen, und die Innenluke ließ sich langsam aufkurbeln.
»Okay, ich gehe rein«, sagte er.
»Ich auch«, sagte Trumball. Jamie hörte ihn ächzen, als er sich in die Luftschleuse hievte, und grinste heimlich, dass Dex sich beim Hochklettern genauso anstrengen musste wie er.
Im Innern herrschte ein wüstes Durcheinander. Sie hatten alle vier Skorbut gehabt, als die Russen ihnen zu Hilfe gekommen waren. Sie hatten den Rover verlassen, ohne einen Gedanken ans Aufräumen zu verschwenden. Die Laken auf den Liegen waren zerknittert, so wie sie sie zurückgelassen hatten. Jamie fand, dass sie immer noch verschwitzt aussahen, obwohl er wusste, dass alle Feuchtigkeit schon vor Jahren verdunstet sein musste.
Er hörte Trumball hinter sich. »Hier ist es also passiert.« Die Stimme des jüngeren Mannes war weicher als sonst.
Jamie drehte sich um und sah ihn an. Dex spähte durch die Schleuse ins mittlere Segment des Rovers, das in ein mobiles Biologielabor umgewandelt worden war.
»Hier haben Brumado und Malater die Flechte entdeckt«, sagte Trumball, fast so, als sähe er einen heiligen Schrein vor sich.
»Das stimmt«, sagte Jamie. Die Erinnerung kam zurück, und er sah Joanna, die ängstliche, schöne Joanna mit ihren großen dunklen Augen und dem Gesicht eines einsamen, verletzlichen Straßenkindes. Die Kindfrau, in die er sich verliebt hatte. Die Tochter von Alberto Brumado, die er geheiratet hatte. Die Frau, die endlich erwachsen geworden war und ihn verlassen hatte.
Sie hat mich nie geliebt, dachte Jamie zum millionsten Mal. Vielleicht hat sie's anfangs geglaubt, aber sie hat mich nie geliebt. War ich wirklich verliebt in sie? Er schüttelte in seinem Helm den Kopf und dachte: Wie auch immer, du hast die ganze Sache jedenfalls gründlich vermasselt.
»Mann, was die Museen bezahlen würden, um dieses Teil in die Finger zu kriegen«, sagte Trumball, und die Ehrfucht in seiner Stimme wich der Erregung.
Jamie setzte zu einer scharfen Erwiderung an, fing sich aber gerade noch rechtzeitig. Dieses Teil ist viel zu schwer, als dass wir es zur Erde mitnehmen könnten, sagte er sich. Die Aufstiegssektion des L/AV könnte es unmöglich tragen.
Als läse er Jamies Gedanken, fuhr Trumball fort: »Wir machen ein Ausstellungsstück für die Besucher draus. Vielleicht parken wir ihn wieder unten auf dem Boden des Canyons, wo die Entdeckung gemacht wurde, und karren die Touristen mit Bussen hin.«
Vor Jamies geistigem Auge erstand ein Bild der Navajo-Frauen, die auf den Gehwegen am zentralen Platz von Santa Fe ihre Decken ausbreiteten, um den Touristen Schmuck zu verhökern.
»Alles in Ordnung?«, fragte Stacy Deschurowas Stimme in ihren Helmlautsprechern.
»Wir sind drin«, berichtete Jamie. »Keine Probleme.«
»Ich komme rein«, sagte sie. »Wir müssen die elektrischen Systeme durchchecken.«
»Gut.«
Fast eine Stunde später verkündete Deschurowa, was sie bereits gewusst hatten. »So tot wie ein Dinosaurier«, sagte sie vom Fahrersitz aus.
Jamie, der hinter ihr stand und auf die leeren Monitore und leblosen Instrumente der Kontrolltafel schaute, nickte in seinem Helm. Was hast du erwartet, fragte er sich. Er steht seit sechs Jahren hier draußen, jede Nacht hundert Grad minus, die Solarpaneele von Staub bedeckt. Die Batterien müssen innerhalb von ein paar Tagen oder höchstens einer Woche leer gewesen sein. Die Brennstoffzellen sind hinüber, der Wasserstoff ist diffundiert.
»Wir werden ihn abschleppen müssen«, meinte Trumball.
»Wenn wir können«, sagte Jamie.
»Warum nicht?«
Jamie wollte die Achseln zucken, aber der hartschalige Anzug verhinderte es. »Wir müssen's einfach ausprobieren.«
»Okay«, sagte Deschurowa. »Machen wir uns an die Arbeit, bevor die Sonne untergeht.«
SONNENUNTERGANG: SOL 15
Jamie verspürte immer noch einen leichten, unbehaglichen Schauder, wenn er zur Sonne hinaufblickte; sie war merkwürdig klein und geschrumpft, ein sichtbares Zeichen dafür, wie weit entfernt von zu Hause sie waren.
Jetzt streifte die ferne Sonne fast schon den unregelmäßigen Horizont, ein starres, warnendes rotes Auge an einem glühenden, kupferfarbenen Himmel. Jamie musste in dem schwerfälligen Raumanzug den ganzen Körper drehen, um in die andere Richtung zu schauen. Dort war der Himmel dunkel, und ein paar Sterne glänzten bereits hell. Die Erde war nun ein Abendstern, wie er wusste, aber er hatte keine Zeit, sie zu suchen oder auf die Polarlichter zu warten.
Als die Schatten der Abenddämmerung über die Felswände auf sie zukrochen, zogen sie ein Buckyball.Seil von der Trommel der Winde, die aus der Nase ihres Rovers ragte, zu einem Befestigungshaken am Heck des alten Gefährts, dann gingen sie nacheinander in ihr eigenes Fahrzeug zurück. Sie brauchten eine weitere halbe Stunde, um den Staub abzusaugen, obwohl keiner von ihnen aus seinem Anzug stieg.
Deschurowa schob das Visier hoch und stapfte zum Cockpit. Trudy Hall saß auf dem rechten Sitz. In ihrem Overall wirkte sie klein, beinahe elfenhaft.
Stacy warf einen Blick auf die Instrumente und startete die Radmotoren. Jamie und Dex standen hinter den beiden Frauen. Beide Männer hatten ihre Visiere hochgeschoben und die Handschuhe ausgezogen.
»Bist du sicher, dass die Räder im Leerlauf sind?«, fragte Trumball.
Jamie nickte in seinem Helm. »Alle Räder mit Antrieb werden auf Leerlauf gestellt, sobald die Motoren aus sind, außer wenn man absichtlich einen Gang einlegt.«
»Oder sie mit ›Parken‹ arretiert«, fügte Dex hinzu.
»Sie sind nicht arretiert«, beharrte Jamie. »Ich war dabei: Wir haben die Räder nicht arretiert, als wir in den Staub gefallen sind. Ganz im Gegenteil, wir haben versucht, rückwärts aus dem Krater zu fahren.«
»Dann sind sie vielleicht noch im Rückwärtsgang.«
»Sie sind im Leerlauf«, sagte Jamie fest.
Trumballs Blick glitt von Jamie zu Deschurowa, die mit dem Rücken zu ihnen auf dem Fahrersitz saß. »Ich wünschte jedenfalls, wir hätten die Radeinstellungen überprüfen können«, brummte er.
»Geht nicht«, sagte Stacy von ihrem Sitz aus. »Dazu hätten wir eine Stromleitung zu dem alten Rover legen und das elektrische System hochfahren müssen.«
»Vielleicht sollten wir das tun«, meinte Trumball.
»Probieren wir erst mal, ob wir uns die Mühe sparen und ihn so rausziehen können«, schlug Jamie vor.
»Ich spule das Seil auf«, sagte Deschurowa leise und startete die Fahrmotoren. Jamie konnte ihren Kopf nicht sehen, nur das Oberteil ihres glänzenden weißen Helms.
»Ganz vorsichtig jetzt«, sagte Trumball.
»Halt den Mund, Dex!«, fauchte sie. »Ich weiß, was ich tue.«
Dex verstummte. Neben ihm starrte Jamie geradeaus auf das gekrümmte Heck des alten Rovers, das zehn Meter vor der Windschutzscheibe aufragte.
Die Motoren heulten auf, als Deschurowa langsam mit dem Rover zurücksetzte. Das Seil spannte sich.