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BILDMATERIAL

Tomas Rodriguez trommelte im Rhythmus zu den Trompeten und Geigen der Mariachi-CD, die er gerade hörte, mit den Fingern geistesabwesend auf die Tischplatte, während er mit zusammengekniffenen Augen konzentriert auf den Bildschirm des Computers starrte und den Kamerabildern des Schwebegleiters irgendetwas Gescheites zu entnehmen versuchte.

Es war weit nach Mitternacht. Er saß allein im Geologielabor der Kuppel, umgeben von Borden voller roter, zernarbter Steine und Kunststoffbehälter mit rostrotem Erdreich. In der Kuppel war es dunkel und still, und er hatte die Musik ganz leise gedreht; sie war gerade laut genug, um ihm Gesellschaft zu leisten, während alle anderen schliefen. Rodriguez wünschte sich sehnlichst, zu sehen, was Jamie Waterman gesehen zu haben glaubte: ein künstliches Gebilde, das in eine Nische im oberen Drittel der steilen, zerklüfteten nördlichen Felswand von Tithonium Chasma hineingebaut war. Er gab sich alle Mühe, es zu sehen.

Das Bild auf dem Schirm zeigte die Nische, eine dunkle Spalte in der massiven Felswand unter einem vorgewölbten Felsüberhang. Wegen des Überhangs lag die Nische im Schatten, obwohl die Sonne auf die Felswand schien. Das Flugzeug eignet sich nicht für so was, dachte Rodriguez, während er zusah, wie die Nische immer größer wurde und dann aus dem Bild glitt, als der Schwebegleiter abdrehte und aus dem Canyon emporstieg.

Mit einem geduldigen Seufzer ging er zum Anfang der Sequenz zurück, ließ sie ein weiteres Mal ablaufen, diesmal langsamer, und schaute noch aufmerksamer hin. Der Gleiter flog fast frontal auf die Felswand zu, seine nach vorn gerichteten Kameras hatten die Nische direkt im Visier. Rodriguez' Finger flogen über die Tastatur des Computers und schalteten auf höchste Helligkeitsstufe. Die Felswand wurde nahezu weiß, aber das Innere der Nische blieb aufreizend undeutlich.

Er hieb mit dem dicken Zeigefinger auf eine Taste und fror das Bild ein. Ja, da war etwas drin, eine Gesteinsformation, die heller war als der Rest. Und es sah so aus, als würde sie annähernd parallel zum Rand der Nische verlaufen. Ziemlich gerade.

Eine Mauer? Rodriguez stieß den angehaltenen Atem aus. Quien sabe?

»Ist das Jamies Dorf?«

Beim Klang ihrer Stimme schreckte er hoch. Rodriguez wirbelte auf seinem kleinen fahrbaren Stuhl herum und sah Vijay Shektar im Eingang der Laborkabine stehen, einen Plastikbecher in jeder Hand. Sie trug einen Overall, wie alle anderen auch. Aber der Klettverschluss vorne stand ein paar Zentimeter weit offen — weit genug, dass er es bemerkte. Mein lieber Mann, sie ist wirklich sexy, dachte Tomas.

»Ich konnte nicht schlafen«, erklärte sie. »Dachte, heißer Tee würde vielleicht helfen.«

Tomas sah, dass die beiden Becher ein bisschen dampften. Und ihm wurde bewusst, dass Vijays Stimme, wenn sie so leise sprach, ein kehliges, erotisches Schnurren war.

»Ich hab die Musik gehört. Mexikanisch, oder?«, sagte sie und betrat das Labor. »Ich dachte, du hättest vielleicht auch gern ein Tässchen.«

Er nahm den Becher und wollte sich bedanken, merkte aber, dass ihm die Worte im Hals stecken blieben. Wie ein kleiner dummer Junge, dachte er. Er holte Luft und sagte dann vorsichtig: »Mexikanisch, ganz recht. Mariachi. Das Gegenstück zu Country and Western.«

»Wirklich?«

Er nickte. »Ja. Das gleiche Zeug: Ich hab dich geliebt, aber du hast mich verlassen. Mein Herz ist gebrochen, weil du mir untreu warst.«

»Und meinen Pickup mitgenommen hast«, fügte sie hinzu.

»Und meinen Hund.«

Vijay lachte. Dann sagte sie: »Irgendwer hat mir mal erklärt, das sei Musik für Verlierer.«

Rodriguez zuckte die Achseln. »Mir gefällt's.«

»Ist das Jamies Dorf?«, fragte sie erneut. Sie blieb stehen und schaute an ihm vorbei auf den Bildschirm.

Der Becher Tee in seiner Hand war heiß. Er seufzte. »Das ist kein Dorf.«

»Bist du sicher?«

»Ziemlich.«

Er hatte das Gefühl, dass der Tee noch zu heiß war, um ihn zu trinken, aber sie führte den Becher zum Mund und trank ohne Bedenken. Vorsichtig nahm er einen kleinen Schluck. Das Zeug war kochend heiß. Tomas unterdrückte einen Schmerzensschrei und stellte den Becher aufs Pult.

»Hol dir einen Stuhl«, sagte er und fragte sich, ob seine Zunge Blasen werfen würde, »dann zeig ich dir, was wir haben.«

Vijay nahm auf dem anderen kleinen fahrbaren Stuhl des Labors Platz. »Du bist noch reichlich spät auf.«

»Du auch.«

Sie zuckte die Achseln, und die Bewegung erregte ihn. »Ich schlafe ziemlich wenig. Schon seit jeher.«

»Mhm.«

»Aber was ist mit dir? Brauchst du nicht deinen Schlaf? Du solltest dich wirklich schonen. Morgen früh musst du wieder hellwach und topfit sein.«

Den Expeditionsvorschriften zufolge trug Rodriguez während Jamies und Stacy Deschurowas Abwesenheit die Verantwortung in der Kuppel. Er war der zweite Astronaut, und deshalb hatte er das Kommando, wenn die erste Astronautin und der Missionsleiter fort waren. Nicht dass die Wissenschaftler solchen Protokollfragen auch nur die geringste Beachtung schenkten. Sie würden seinen Befehlen höchstens dann Folge leisten, wenn es einen Notfall gab, glaubte Rodriguez. Vielleicht nicht einmal dann.

»Mir geht's gut«, sagte er und dachte, dass er mehr als bereit wäre, auf der Stelle ins Bett zu gehen, wenn sie mitkäme.

Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Bildschirm zu. »Du glaubst also nicht, dass es ein Dorf oder irgendwas Künstliches ist?«

Sie hatte Parfüm aufgelegt, da war er sicher. Ein schwacher, aber irgendwie femininer Duft. Es kostete ihn einige Anstrengung, seine Hände bei sich zu behalten und sie nicht in die Arme zu nehmen. Widerstrebend drehte Tomas sich wieder zum Bildschirm um und fand die Kraft, »Sieh selbst!« zu sagen.

Die nächste halbe Stunde studierten sie das Bildmaterial des Schwebegleiters: Infrarot, Radar, Falschfarben, selbst den kurzen Datenburst aus dem Gas-Chromatographen, der ihnen nur Informationen über die Zusammensetzung der Luft im Canyon gab.

Sie saß neben ihm, so nah, dass ihre Schultern sich beinahe berührten. Tomas spürte, wie sich ein dünner Schweißfilm auf seiner Oberlippe bildete.

Vijay seufzte erregend. »Da stehen jedenfalls keine Schilder mit der Aufschrift ›Willkommen, Erdlinge‹, stimmt's?«

Macht sie das absichtlich?, fragte sich Tomas. Weiß sie, wie das auf Männer wirkt?

»Wenn es jemand anders als Jamie wäre, würde ich sagen, wir verschwenden unsere Zeit«, erklärte er ihr.

»Aber bei Jamie ist das was anderes?«

»Er ist der Expeditionsleiter«, sagte Rodriguez. »Und er war schon mal hier.«

»Und deswegen hat er Recht?«

Er überlegte einen Augenblick. »Nein. Aber es bedeutet, dass wir uns mehr anstrengen als sonst, seiner Ahnung nachzugehen.«

Vijay schaute ihm direkt in die Augen. »Wie sehr würdest du dich für Jamie anstrengen?«

»Für Jamie? Wie meinst du das?«

»Angenommen, Jamie würde dich bitten, mit ihm in dieses Gebiet zu fahren, um in der Nische rumzustöbern und nachzusehen, was wirklich drin ist. Würdest du mitfahren?«

»Ja. Klar.«

»Weil er der Expeditionsleiter ist?«

Rodriguez zögerte. »Wahrscheinlich. Aber … ich würde wohl auch mitfahren wollen, wenn er nicht der Boss wäre.«

»Warum?«

Er merkte, wie sich seine Stirn in Falten legte. Das ist ein Psychotest, erkannte er. Darum geht es ihr also. Sie macht das nur, um ihren gottverdammten Psychoreport über mich auszufüllen.

»Ich mag Jamie«, sagte er. »Ich vertraue ihm. Ich glaube, wenn er mich bäte, mit ihm zum Canyon zu fahren, wäre ich irgendwie geschmeichelt.«

Vijay nickte. »Er ist liebenswert, nicht?«