Dennoch brachte sie mit ihrer unheimlichen Schönheit eine Saite in Jamie zum Klingen, diese rote Welt. Es war eine sanfte Landschaft, kahl und leer, aber irgendwie freundlich und verlockend. Was ist jenseits des nächsten Hügels, fragte er sich. Und hinter dem Horizont?
Dennoch blieb er stehen.
»Warum bleibst du stehen?«, fragte sie. »Gehen wir zu diesen Dünen hinüber.«
Jamie berührte mit der einen Hand ihre Schulter und zeigte mit der anderen nach hinten. »Wir wären außerhalb des Kamerabereichs.«
Hinter ihnen ragte eine der auf Masten montierten Überwachungskameras gerade eben noch über den Horizont. Ihre nebeneinander herlaufenden Stiefelabdrücke waren in dem eisenhaltigen Sand deutlich zu sehen. Sie werden bis zum nächsten großen Sturm erhalten bleiben, sagte sich Jamie. Der sanfte Wind, der hier weht, hat nicht genug Kraft, um die rostigen Sandkörner zu bewegen.
»Gehen wir eine Weile auf diesem Kamm entlang«, sagte er zu Vijay. »Es ist noch früh, wir haben Zeit.«
»Gern.«
»Wir können aber nicht sehr lange draußen bleiben«, schränkte er ein. »Sobald die Sonne untergeht, wird es rasch dunkel.«
»Stacy hat mir erzählt, dass du ihr die Polarlichter gezeigt hast.«
»Ja, das stimmt.«
Nachdem sie ein paar Minuten lang stumm dahingegangen waren, blieb Jamie stehen und drehte sich ganz herum. Im Osten wurde der Himmel bereits dunkel, obwohl die Sonne noch nicht ganz den welligen westlichen Horizont berührte.
Jamie dachte: Dort müsste … ja! Da ist er!
Er berührte Vijay an der Schulter und zeigte mit der anderen Hand hin. »Schau, da oben.«
»Wo? Was ist — ein Flugzeug!«
»Nein«, korrigierte sie Jamie, »das ist Phobos, der nähere Mond.«
Ein heller Funken bewegte sich dort oben zielstrebig dahin, ohne zu blinken, ohne Eile, zog über den dunkelnden Himmel, als wäre er in einer eigenen Mission unterwegs.
»Er ist so klein, dass man ihn nicht als Scheibe sehen kann«, erklärte Jamie, »und so nah an dem Planeten, dass er sich wie ein künstlicher Satellit in einer niedrigen Umlaufbahn von Osten nach Westen bewegt.«
»Ich sehe einen Stern«, sagte sie und zeigte hin.
»Wahrscheinlich Deimos, der größere Mond.« Jamie folgte ihrem ausgestreckten Arm mit dem Blick und erkannte, dass er sich irrte. Er merkte, wie ihm der Atem entwich.
»Das ist die Erde«, sagte er. Oder flüsterte er vielmehr.
»Die Erde?«
Jamie nickte in seinem Helm. »Groß und blau. Das ist die Erde. Für die nächsten paar Monate ist sie hier der Abendstern.«
»Die Erde.« Vijays Stimme klang dumpf vor Staunen.
Stacy Deschurowas Stimme zerstörte den Zauber des Augenblicks. »Basis an Waterman. Die Sonne ist am Horizont. Macht euch auf den Rückweg.«
Er drehte sich um und sah, dass die Sonne tatsächlich die fernen Hügel berührte. »Okay«, sagte er widerstrebend. »Wir kommen.«
Sicherheitsvorschriften. Trotz der Helmlampen war es nicht erlaubt, nachts draußen herumzulaufen; das wäre auch ziemlich unklug gewesen, sofern es keinen dringenden Grund dafür gab. Trotzdem hätte Jamie es genossen, zumindest für ein paar Minuten mit Vijay und dem funkelnden Nachthimmel des Mars allein zu sein.
»Keine Polarlichter heute, tut mir Leid«, sagte er bedauernd.
»Stacy ist eifersüchtig.«
»Nein, sie hält sich nur an die Vorschriften.«
»Tja … danke für den Spaziergang«, sagte sie, als sie den Rückweg antraten.
»Freut mich, dass es dir gefallen hat«, sagte er.
»Ich sollte öfter mal rausgehen. Ich war zu lange in dieser Kuppel eingepfercht.«
»Macht es dir nichts aus, in einen Anzug eingepfercht zu sein?«
»Eigentlich nicht. Dir?«
»Eigentlich nicht«, erwiderte er. »Ich fühle mich hier draußen irgendwie frei, beinahe so, als könnte ich den Anzug ausziehen und zum Horizont laufen.«
»Wirklich?«
Die plötzliche Veränderung ihres Tonfalls alarmierte Jamie. »Oh-oh. Das hätte ich der Psychologin des Teams gegenüber nicht zugeben dürfen, wie?«
Sie lachte. »Keine Sorge. Es bleibt unter uns.«
Jamie wusste es besser. Er versuchte, es auf die leichte Schulter zu nehmen. »Ich habe keine richtigen Wahnvorstellungen, weißt du.«
»Noch nicht«, gab sie neckisch zurück.
»Ich hab mich schon gefragt, wozu wir bei dieser Mission eine Psychologin brauchten«, sagte er. »Auf der ersten Expedition sind wir prima ohne eine ausgekommen.«
»Ihr braucht eine Psychologin, weil ihr alle an der Grenze zum Wahnsinn seid«, gab Vijay zurück.
»Zum Wahnsinn?«
»Wer, wenn nicht ein Wahnsinniger, würde Millionen von Kilometern zu dieser eisigen Wüste fliegen? Ich könnte einen Forschungsbericht über jeden Teilnehmer dieser Mission schreiben. Jeden einzelnen.«
»Auch über die Frauen?«
»Ja«, antwortete sie gelassen. »Auch über mich. Manchmal denke ich, ich muss die Verrückteste von uns allen sein.«
»Du?« Er war ehrlich überrascht.
»Ja, ich.«
»Aber du bist so ausgeglichen. Immer guter Dinge und so.«
Sie seufzte. »Irgendwann muss ich dir mal meine Lebensgeschichte erzählen.«
»Jederzeit.«
»Mittlerweile habe ich den Eindruck«, sagte sie, und ihr Ton war jetzt völlig ernst, »dass du ganz gut mit Dex klarkommst.«
»Dex ist gar nicht so schlimm … solange er kriegt, was er will.«
»Er ist ein sehr ehrgeiziger junger Mann und absolut daran gewöhnt, seinen Willen durchzusetzen. Je mehr du ihm nachgibst, desto mehr Forderungen wird er an dich stellen.«
Und welche Forderungen stellt er an dich? wollte Jamie fragen. Aber er verdrängte es und sagte stattdessen: »Als Missionsleiter habe ich die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass keine persönlichen Konflikte entstehen, die sich störend auf die Arbeit der Expedition auswirken.«
»Das ist Unfug, Jamie. Weder du noch sonst jemand kann persönliche Konflikte verhindern. Du hast vier sehr intelligente, hoch motivierte und total individualistische Wissenschaftler unter deiner Fuchtel. Nicht zu vergessen die beiden Astronauten, die ebenfalls ihre Macken haben.«
»Und auch die Ärztin und Psychologin der Expedition.«
»Die auch«, gab Vijay zu.
»Und dir zufolge sind wir alle Beinahe-Irre.«
»Wir leben unter extrem belastenden Bedingungen«, konterte sie. »Wir sind Millionen Kilometer von zu Hause entfernt, Jamie.«
»Wir sind alle dazu ausgebildet, damit fertigzuwerden.«
»Mag sein, aber es wird trotzdem Konflikte geben«, fuhr sie todernst fort. »Du wirst nicht ständig jedermann beschwichtigen können.«
Sie gingen einige Minuten in unbehaglichem Schweigen dahin und passierten dabei das Flugzeug, an dem Rodriguez gearbeitet hatte. Nichts von ihm zu sehen; er muss schon drin sein, dachte Jamie.
»Tja«, sagte er lahm, »die ersten drei Wochen haben wir ja recht gut überstanden.«
Die Sonne tauchte jetzt hinter die Hügel. Sie befanden sich im Schatten. Die Dämmerung war nur kurz, wenn kein neuer Sandsturm die Luft mit Partikeln füllte, die das erlöschende Sonnenlicht streuten. Die Krümmung der Kuppel zeichnete sich gerade eben über dem Rand des Hügels vor ihnen ab. Auf dem Weg zur Luftschleuse drehte Jamie sich um und warf einen letzten Blick auf die rote Welt.
»Ich bin sehr gern hier.« Die Worte überraschten ihn. Er hatte nicht gewusst, was er sagen würde, bis sie ihm von den Lippen purzelten.
Vijay folgte seinem Blick über die Gesteinstrümmer, die über die rostige Landschaft verstreut waren, und die vom Wind geformten Dünen, die darauf warteten, dass der nächste große Sandsturm sie neu strukturierte.
»Es ist so kahl«, sagte sie. »So kalt und trostlos.«
»Ich fühle mich hier wie zu Hause.«