»Wie hast du uns reinkommen hören?«, fragte Jamie ungläubig.
»Hab ich nicht«, sagte Hall, »aber ihr seid ja keine Vampire, oder?«
»Hm?«
Sie reckte einen Daumen zum Monitor. »Ich hab eure Spiegelbilder auf dem Bildschirm gesehen.«
»Oh.«
»Ich bin hier fertig.« Sie erhob sich von ihrem Stuhl. »Alles unter Dach und Fach für die Nacht.«
»Du solltest dieses Zeug wirklich nicht so laut hören«, sagte Vijay ziemlich ernst. »Es kann dein Gehör schädigen.«
»Was?« Trudy legte eine Hand ans Ohr, als wäre sie taub. Beide Frauen lachten, und Trudy ging mit einem unbekümmerten »Danke« zur Tür.
Als Trudy mit federnden Schritten das Kommunikationszentrum verließ, kam sie an dem gedrungenen, kastenartigen Immersionstisch vorbei. Ich sollte mir mehr Zeit dafür nehmen, meine eigene Tour zu der Felsenbehausung zu planen, sagte sich Jamie. Ich sollte mir so viel Zeit dafür nehmen, wie Dex sie sich für seine schwachsinnige Exkursion zum Ares Vallis nimmt, aber statt meine eigene Exkursion zu planen, habe ich die Stratigraphiearbeit am Hals, die er eigentlich machen sollte.
Beinahe müde ließ er sich auf einem der Drehstühle nieder und holte die Botschaften des älteren Trumball auf einen der Bildschirme. Vijay setzte sich neben ihn und schaute stumm auf den alten Mann, der eisig seine Forderungen stellte. Bisher waren sechs Botschaften eingegangen, keine unter zwölf Minuten lang.
»… das ist eine absolut inakzeptable Situation, Waterman«, sagte Darryl C. Trumball. »Absolut inakzeptabel! Jede VR-Übertragung bringt uns über dreißig Millionen Dollar ein. Dreißig Millionen Dollar! So viel Geld pissen Sie in die Siele, weil Sie und Ihr Haufen brillanter Wissenschaftler außerstande sind, dafür zu sorgen, dass ein simples elektronisches Gerät anständig funktioniert!«
Vijay saß während aller sechs immer giftiger werdenden Tiraden Trumballs wortlos da. Als die letzte zu Ende war, sagte sie: »Du meine Güte!«
Jamie löschte den Bildschirm. »Ich bin froh, dass hundert Millionen Kilometer zwischen uns liegen.«
»Damit hat Dex sich sein Leben lang rumschlagen müssen«, sagte sie leise. »Kein Wunder, dass er so besessen ist.«
Jamie sagte nichts. Sie macht sich keine Gedanken darüber, womit ich mich abgeben muss; sie denkt an Dex.
»Wie willst du ihn besänftigen?«, fragte Vijay.
Jamie sagte: »Nichts wird ihn besänftigen, bis wir die VR-Übertragungen wieder aufnehmen. Ich hab daran gedacht, die Reserveausrüstung einzusetzen, aber Mitsuo wird sie am Olympus Mons brauchen, und ich will nicht riskieren, dass sie vorher kaputtgeht.«
»Das ist wohl richtig.« Vijay nickte nachdenklich. »Und Possum kann dieses Gerät nicht reparieren?«
»Er hat es sich angesehen, aber er findet nicht raus, was damit los ist. Er nennt es die Technikerhölle: Alles ist in Ordnung, aber nichts funktioniert.«
Zwei winzige Furchen bildeten sich zwischen Vijays Augenbrauen. Sie sah aus, als versuchte sie, die Situation zu klären, indem sie konzentriert darüber nachdachte.
»Der Fehler muss im Computer des VR-Systems liegen«, sagte Jamie. »Die Kameras und Datenhandschuhe scheinen in Ordnung zu sein.«
»Können wir einen anderen Computer …?«
»Nein, er ist fest ins System eingebaut.«
Sie lehnte sich auf dem Stuhl zurück. »Dann hast du ein Problem, Kamerad.«
»Es ist ein Ärgernis«, sagte Jamie, »kein Problem. Ich kann mich nicht allzu sehr darüber aufregen, auch wenn Dex' Dad deswegen einen Schlaganfall kriegt.«
Sie sah ihn neugierig an. »Also, ich würde mich jedenfalls aufregen, wenn jemand so auf mich losginge wie er auf dich.«
Jamie lächelte. »Was will er denn machen, mich etwa feuern?«
»So gesehen, hast du natürlich Recht.« Sie erwiderte sein Lächeln.
»Manche Dinge sind wichtig, andere nicht. Man muss einen Weg finden, der es einem ermöglicht, sich mit den wichtigen Dingen zu befassen.«
»Und die anderen ignorieren?«
Er schüttelte den Kopf. »Nicht ignorieren. Nur dafür sorgen, dass das richtige Verhältnis gewahrt bleibt.«
Vijays Blick veränderte sich ein wenig. »Weißt du, Jamie, du bist vielleicht der normalste Mensch, den ich kenne.«
»Ich dachte, wir wären alle verrückt.«
»Oh, das sind wir auch«, sagte sie und stand auf. »Ganz ohne Zweifel. Aber für einen Irren bist du ziemlich ausgeglichen.«
Er stand neben ihr auf und bemerkte erneut, dass sie ihm kaum bis zu den Schultern reichte. »Magst du ausgeglichene Männer?«
Sie legte den Kopf schief, als würde sie nachdenken. »Eigentlich finde ich die Verrückten interessanter.«
»Ist das eine persönliche oder berufliche Einstellung?«
»Ein bisschen von beidem, glaube ich.«
Ohne zu überlegen, ohne auch nur zu wissen, was er tun würde, legte Jamie ihr die Arme um die Taille, zog sie an sich und küsste sie.
Vijay verweilte ein paar atemlose Momente in seinen Armen, dann löste sie sich sanft von ihm.
»Ich finde, wir sollten nicht …«
»Bin ich dir etwa nicht verrückt genug?«
Sie trat einen Schritt von ihm zurück. »Das ist es nicht, Jamie. Es liegt nicht an dir, nicht daran, wer oder was du bist. Es liegt an … an diesem Ort hier. Wir sind hundert Millionen Kilometer von zu Hause entfernt, verdammt noch mal. Was wir hier tun, was wir empfinden … das sind nicht wirklich wir. Es sind Einsamkeit und Angst.«
»Ich bin nicht einsam, und ich habe keine Angst«, sagte Jamie leise. »Mir gefällt es hier.«
»Dann bist du wirklich der Verrückteste von uns allen«, flüsterte Vijay. Sie drehte sich um und floh aus dem Kommunikationszentrum.
Jamie stand allein da und dachte: Unter ihren Scherzen und Späßen hat sie Angst. Sie hat Angst vor dem Mars. Sie hat Angst, dass ihre Empfindungen nicht echt sind, dass sie nur eine Reaktion auf unsere Anwesenheit hier sind.
Er fragte sich, ob sie Dex gegenüber wohl auch so empfand. Empfindet sie Dex gegenüber genauso?
ZWEITES BUCH
DIE ERSTEN EXKURSIONEN
Das Volk kam durch drei Welten herauf und ließ sich auf der vierten, der blauen Welt nieder. Es war von einer dieser Welten nach der anderen vertrieben worden, weil seine Angehörigen ständig miteinander im Streit lagen und Ehebruch begingen. Auf den früheren Welten hatte es keine anderen seinesgleichen gefunden, aber auf der blauen Welt fand es welche.
Das Volk vergaß seine früheren Welten und bewahrte sich nur die Sagen, die man sich von den Alten erzählte. Aber die anderen, die Fremden, sie blickten voller Staunen zu den anderen Welten. Sie wollten sie sehen, wollten auf ihnen herumlaufen. Sie wussten nicht, dass Cojote mit ihnen kommen und versuchen würde, sie allesamt zu vernichten.
ABEND: SOL 45
Was für eine langweilige Party, dachte Jamie. Aber was kann man schon erwarten, wenn einem zehn oder zwanzig Millionen Fremde dabei zusehen?
Am Mittag nach Ortszeit hatten sie den Rekord der ersten Expedition gebrochen, die Feier jedoch bis nach dem Abendessen verschoben. Dex hatte den Zeitpunkt für ihre ›Party‹ in Absprache mit den PR-Leuten in Tarawa und New York festgelegt — als ob er nicht schon genug zu tun hätte, schimpfte Jamie in sich hinein.
Dex hatte also nun die Virtual-Reality-Reservekameras wie ein zusätzliches Augenpaar am Kopf und die genoppten Datenhandschuhe an den Händen, während die acht Forscher mit Fruchtsaft, Kaffee und Tee feierlich auf den neuen marsianischen Ausdauerrekord anstießen.
In New York war es früher Nachmittag. Roger Newell saß hinter seinem breiten, ausladenden, tipptopp aufgeräumten Schreibtisch und nahm an der steifen kleinen Feier auf dem Mars teil. Seinen Informationen zufolge wurde sie zu über zehn Millionen VR-Geräten übertragen, aber sein Network würde in den Abendnachrichten Ausschnitte für all jene zeigen, die sich keinen solchen Apparat leisten konnten.