»Nicht mehr als eine Minute«, murmelte Newell im Innern des VR-Helms vor sich hin. »Höchstens dreißig Sekunden.« Himmelherrgott, was für ein Haufen von Amateuren, dachte er. Diese Wissenschaftler bringen es fertig, selbst eine Party langweilig wirken zu lassen.
»Und hier«, sagte Dex Trumball, »haben wir Dr. James Waterman, unseren Missionsleiter. Er war auch bei der ersten Expedition dabei.«
Als Dex so vor ihm stand und ihn mit diesem zusätzlichen elektronischen Augenpaar am Kopf anstarrte, hatte Jamie auf einmal das Gefühl, keinen Ton herausbringen zu können. Er hatte dem Programm, das Dex mit den PR-Leuten ausgearbeitet hatte, keine Aufmerksamkeit geschenkt. Aber er wusste, dass er etwas sagen musste.
»Wir freuen uns sehr, hier auf dem Mars zu sein und mehr über diesen Planeten zu erfahren«, faselte er, um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen. Unbewusst hob er den Becher, aus dem er getrunken hatte, und erklärte: »Natürlich gibt es bei uns keine alkoholischen Getränke, aber die Fruchtsäfte, die wir trinken, stammen aus unserem eigenen Garten. Sie sollten unseren Gästen den Garten zeigen, Dex.«
»Später«, erwiderte Dex und versuchte, seinen Ärger zu verbergen. »Aber erzählen Sie uns doch bitte zuerst, was für die nächsten Phasen der Expedition geplant ist.«
»Oh, Sie meinen den Flug zum Olympus Mons.«
»Ja, genau … und die Fernexkursion zur Sagan-Station.«
»Aber natürlich«, sagte Jamie, erleichtert, dass er etwas Konkretes hatte, worüber er sprechen konnte.
Darryl C. Trumball sah sich die Sendung auf dem flachen Wandbildschirm in seinem Büro an. Er hatte weder Zeit noch Lust, einen VR-Helm aufzusetzen und diese widerlichen Handschuhe überzustreifen.
Dex versucht, die verdammte Rothaut dazu zu bringen, das Publikum für die Bergung der Pathfinder-Sonde zu begeistern, aber dieser Indianer redet bloß über diesen blöden Vulkan!
Robert Sonnenfeld hatte die insgesamt achtzehn Virtual-Reality-Helme und Handschuhsätze erbettelt, geborgt und sogar mit seinem eigenen Geld bezahlt, damit seine ganze Klasse die Sendungen vom Mars miterleben konnte.
Jetzt hatten er und seine siebzehn faszinierten Middle-School-Schüler das Gefühl, als würden sie tatsächlich durch den überkuppelten Garten gehen, den die Forscher auf dem rostroten Sand des Mars angelegt hatten. Eine Engländerin führte sie herum und erklärte ihnen, was sie sahen.
»Das hier ist eine stark spezialisierte Version eines Systems namens Living-Machine. Es wurde in den Vereinigten Staaten entwickelt, um Brauchwasser zu reinigen und wieder Trinkwasser daraus zu machen.«
Trudy Hall blieb bei einem sehr großen Bottich voller dickem, schlammig-braunem Wasser stehen. »Dieser Prozess beginnt mit Bakterien«, erläuterte sie. »Sie bauen zunächst die Abfall- und Giftstoffe im Wasser ab …«
Fünfzehn Minuten später stand sie zwischen Reihen von Plastikkästen mit allerlei grünen Blattpflanzen darin.
»Im hiesigen Boden können wir keine Pflanzen züchten, weil er mit Peroxiden gesättigt ist«, erklärte Trudy. »Er hat eher Ähnlichkeit mit einem sehr starken Bleichmittel. Indem wir jedoch mit Hydrokulturen arbeiten — das heißt, unsere Pflanzen in Kästen anbauen, durch die wir nährstoffreiches Wasser leiten …«
Li Chengdu war fasziniert von der Führung. Als Missionsleiter der ersten Expedition war er im Orbit um den Mars geblieben und hatte nie einen Fuß auf den Boden des Roten Planeten gesetzt. Jetzt ging er durch einen von Menschenhand geschaffenen hydroponischen Garten, der unter einer Kunststoffkuppel angelegt worden war, einen Garten, der das Wasser der Expedition wieder aufbereitete und nicht nur sauberes Trinkwasser, sondern auch frische Nahrung lieferte. Erstaunlich. Er schlenderte virtuell neben Trudy Hall her, die langsam einen Gang zwischen Hydro-Kästen entlangging und nach links und rechts zeigte, während sie sprach.
»Und ab hier dient das Wasser dann zur Nährstoffversorgung unserer Gartengemüse. Sojabohnen, natürlich. Kopfsalat, Reismelde, Auberginen … und in den größeren Kästen da drüben sind die Melonen und Erdbeeren.«
Sie streckte die Hand aus und berührte ein leuchtend grünes Blatt. Li fühlte es in seinen beschuhten Fingern.
Endlich bin ich auf dem Mars, dachte er verwundert.
Jamie und die anderen hatten sich langsam zu den Tischen in der Messe begeben, nachdem Dex und Trudy in den Garten hinausgegangen waren. Jetzt, wo die Kameras nicht mehr auf sie gerichtet waren, saßen sie herum und fachsimpelten.
»Gut, dass die VR-Ausrüstung heute Abend funktioniert«, sagte Stacy Deschurowa. »Tarawa hat sich täglich darüber beklagt, dass sie kaputt ist.«
Tarawa, dachte Jamie, leitete nur das Gejaule des älteren Trumball in Boston weiter.
»Also, ich nehm sie nach Ares Vallis mit«, sagte Possum Craig, beide Hände um seinen Becher mit erkaltendem Kaffee gelegt. »Unterwegs bastle ich so lange dran rum, bis sie sich wieder anständig aufführt.«
»Viel Glück«, brummte Rodriguez.
Die Luftschleuse öffnete sich seufzend und Trudy und Dex kamen hereingeschlendert. Dex hatte die VR-Kameras abgenommen, wie Jamie sah.
»Okay«, verkündete er. »Wir haben das Provinzlerpack da unten echt vom Hocker gerissen. Trudy ist ein VR-Naturtalent. Ihr hättet sie sehen sollen.«
Hall lächelte höflich und machte einen winzigen Knicks. »Demnächst starte ich eine Karriere im Showbusiness.«
Vijay entschuldigte sich, als Dex zum Spender ging und sich eine Tasse Kaffee einschenkte. Jamie fiel auf, dass er sich nicht erbot, Trudy etwas mitzubringen; sie saß am Tisch und schöpfte Atem, als hätte sie gerade einen Wettlauf hinter sich gebracht.
Als Dex zum Tisch zurückkam, sagte er, den Blick auf Jamie gerichtet: »Ihr wisst gar nicht, wie wichtig diese VR-Übertragungen sind. Wir haben weit über zehn Millionen Zuschauer, die miterleben, was wir ihnen zeigen.«
»Mucho dinero«, sagte Rodriguez.
»Es geht nicht nur ums Geld«, fuhr Trumball auf. »Es geht um die Unterstützung. Diese Zuschauer haben das Gefühl, wirklich bei uns auf dem Mars gewesen zu sein. Sie werden uns unterstützen, wenn es um zukünftige Expeditionen geht. Sie werden sogar selber herkommen wollen.«
Bevor Jamie etwas erwidern konnte, kehrte Vijay mit strahlendem Lächeln und einem Halbliter-Plastikbehälter an den Tisch zurück.
»Was ich hier bei mir habe«, sagte sie und hielt den Behälter hoch, damit jeder ihn sehen konnte, »ist eine gewisse Menge medizinischer Alkohol. Nachdem die Kameras ja nun abgeschaltet und wir vor neugierigen Blicken sicher sind, wollen wir mal mit der richtigen Party loslegen!«
VORMITTAG: SOL 48
Ein bedeutsamer Vormittag, dachte Jamie. Der bedeutsamste, den der Mars seit unserer ersten Landung hier je gesehen hat.
»Es wird einsam hier sein«, sagte Stacy Deschurowa beim Frühstück mürrisch.
»Wir werden nicht so lange fortbleiben«, entgegnete Mitsuo Fuchida. »Nicht mal eine ganze Woche.«
»Und wir höchstens vier Wochen«, sagte Dex Trumball.
Zu Jamies Überraschung wirkte die russische Kosmonautin beinahe melancholisch. Normalerweise war Stacy immer gelassen und sachlich. »In der Kuppel wird es ziemlich ruhig werden«, sagte sie und schaute von Trumball zu Fuchida.
Dex grinste sie an. »Ja, aber wenn wir zurückkommen, haben wir die alte Pathfinder-Sonde dabei. Und den kleinen Sojourner-Wagen auch.«
Jamie bemerkte, dass der japanische Biologe sein Frühstücksmüsli bis auf den letzten Bissen verdrückt hatte. Dex' Schüssel dagegen war trotz seiner gespielten Tapferkeit noch fast voll, als er sie wegschob.