Jamie hatte beschlossen, sie am selben Tag zu ihrer jeweiligen Exkursion aufbrechen zu lassen, sofern es Stacy gelang, den Treibstoffgenerator annähernd im richtigen Gebiet von Xanthe Terra zu landen; sonst war Dex' Reise von vornherein zum Scheitern verurteilt.
An diesem Vormittag stand also Folgendes auf dem Programm: erstens den Generator starten und sicher in Xanthe landen. Zweitens Dex und Possum auf die Reise schicken. Drittens Fuchidas und Rodriguez' Abflug zum Olympus Mons organisieren.
Ein bedeutsamer Vormittag. Ein großer Tag. Insgeheim machte Jamie sich jedoch Sorgen, dass sie sich mehr vorgenommen hatten, als sie bewältigen konnten.
Das ist keine gute Planung, sagte er sich. Es gibt null Spielraum für Fehler. Es ist nicht klug, nicht sicher. Und unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten ist es auch kaum zu vertreten. Dex knapst vier Wochen von seiner Arbeitszeit und der von Possum ab … wofür? Um Geld zu machen. Um Ruhm zu ernten.
Alle drängelten sich im Kommunikationszentrum, als Deschurowa die letzten Vorbereitungen zum Start des Generators traf. Alle außer Jamie, der seinen Anzug anlegte und durch die Luftschleuse hinausging, um den Start mit eigenen Augen zu verfolgen.
Er wusste, dass er die Sicherheitsvorschriften bis zum Zerreißen dehnte, aber er ging trotzdem allein zum Kamm des kleinen Höhenzugs, der vom Rand eines alten Kraters geformt wurde. Die Sicherheitsvorschriften sind zu restriktiv, gestand er sich ein. Früher oder später müssen wir sie überarbeiten.
Von seinem Aussichtspunkt aus sah er die Trägerrakete am Horizont stehen. Der Treibstoffgenerator saß darauf, wie immer. Possum, Dex und er hatten schwer geschuftet, um den Reserve-Wasseraufbereiter wieder an seinem ursprünglichen Platz in der Gerätebucht einzubauen.
Die Haupttanks der Trägerrakete waren mit flüssigem Methan und Sauerstoff gefüllt. Jamie konnte einen dünnen Faden weißen Dampfs von einem Ventil auf halber Höhe des zylindrischen Raketenrumpfs aufsteigen sehen, aber keine Spuren von Kondensationsreif an der Außenhaut des Tanks; dafür enthielt die marsianische Atmosphäre einfach nicht genug Feuchtigkeit.
In seinen Helmlautsprechern hörte er den automatischen Countdown: »Vier … drei … zwei … eins …«
Ein Lichtblitz schoss unten aus der Rakete, und sie war im Nu in eine schmutzige, rosa-graue Wolke aus Wasserdampf und Staub eingehüllt. Einen Herzschlag lang glaubte Jamie, sie sei explodiert, aber dann stieg die Trägerrakete durch die Wolke empor, und er hörte — selbst durch seinen Helm — das heulende Brüllen der Triebwerke.
Immer höher, immer schneller stieg die Rakete in den hellen, wolkenlosen Himmel. Jamie beugte sich so weit zurück, wie es sein Raumanzug erlaubte, und sah, wie die Rakete am Himmel zu einem winzigen Fleck schrumpfte. Und dann war sie verschwunden.
Als er wieder durch die Luftschleuse hineingegangen war und seinen Anzug ausgezogen hatte, hörte er Jubelrufe und Freudengeschrei aus dem Kommunikationszentrum. Er ließ den Anzug liegen, um ihn später abzusaugen, und gesellte sich eilig zu den anderen.
»Weg ist sie«, sagte Deschurowa. Sie saß zusammengekauert vor dem Bildschirm, und die Hände mit den dicken Fingern schwebten über der Tastatur wie die einer Konzertpianisten, die gleich losspielen würde.
Aber sie berührte die Tasten nicht. Das war gar nicht nötig. Der Bildschirm zeigte eine Kurve der geplanten Abstiegsbahn der Rakete in Rot sowie eine Kurve ihres tatsächlichen Kurses in Grün. Die beiden Linien deckten sich nahezu vollständig.
»Der Wind ist steifer, als wir erwartet haben«, sagte Deschurowa. »Aber neh problemeh.«
Rodriguez, der hinter ihr saß, schaute so gespannt drein wie ein kleines Kind. Die anderen drängten sich hinter ihnen zusammen wie ein etwas zu kleines Football-Team.
»Fünfzehn Sekunden bis zum Touchdown«, rief Rodriguez aus.
»Sieht gut aus«, sagte Deschurowa angespannt.
»Sieht toll aus«, rief Possum Craig.
»Zehn … neun …«
»Ich hab's euch ja gesagt, da gibt's keine Felsbrocken«, meinte Dex Trumball zu niemand Bestimmtem.
Jamie sah Vijay neben Dex stehen; seine Hand lag in ihrem Kreuz. Er merkte, wie seine Nasenflügel vor kaum unterdrücktem Zorn bebten.
»Vier … drei … zwei … Touchdown!«, verkündete Rodriguez.
»Sie ist gelandet. Wohlbehalten und sicher«, sagte Deschurowa, wirbelte auf ihrem Stuhl herum und nahm mit schwungvoller Geste den Kopfhörer ab.
»Wir sind startklar für die Fahrt zur Sagan-Station«, krähte Dex, vor Zufriedenheit strahlend.
»Erst, wenn wir den Treibstoffgenerator durchgecheckt haben, Partner«, warnte Craig. »Der Kasten muss schon pikobello in Schuss sein, bevor wir so 'ne weite Reise antreten.«
»Ja, klar«, erwiderte Dex, aber sein triumphierendes Grinsen wurde nur eine Spur schwächer.
Binnen einer Stunde hatten sie sämtliche Daten, die sie benötigten. Der Bohrer des Wasseraufbereiters war auf Permafrost gestoßen, und der Treibstoffgenerator funktionierte, als wäre er nie bewegt worden; er füllte bereits die Treibstofftanks der Trägerrakete auf.
Trumball und Craig stiegen in ihre Anzüge. Jamie und Vijay überprüften sie: Jamie kümmerte sich um Possum, Vijay um Dex.
»Hoffentlich kriegen wir das VR-Gerät wieder hin«, sagte Dex, während er den Helm vom Bord hob. Selbst in dem klobigen Anzug strahlte er Erregung aus; er zitterte geradezu wie ein Kind an Heiligabend.
»Tja, jetzt hab ich endlich mal Zeit, es richtig aus'nanderzunehmen und nachzuschauen, was, zum Teufel, mit dem Ding los is«, meinte Craig.
Jamie half ihm, das Tornistergerät anzulegen. Craig trat zurück, und Jamie ließ die Verschlüsse einrasten. Dann trat Possum von dem Gestell weg, an dem das Tornistergerät gehangen hatte.
»Stromanschlüsse okay?«, fragte Jamie.
Craig spähte auf das Displayfeld an seinem rechten Handgelenk. »Alles grün«, meldete er.
»Gut.« Jamie steckte den Luftschlauch in Craigs Halsring.
»Alles klar für den Funkcheck«, sagte Vijay zu Trumball.
Dex zog sein Visier herunter und verriegelte es. Jamie hörte seine gedämpfte Stimme, als er Stacy Deschurowa rief, die wie üblich im Kommunikationszentrum Dienst tat. Kurz darauf schob er das Visier wieder hoch und reckte den Daumen in die Höhe.
»Funk ist okay.«
Craig brauchte noch ein paar Minuten, um seinen Anzug zu verschließen und sein Funkgerät zu testen. Trumball marschierte ruhelos auf und ab. In dem Anzug mit den dicksohligen Stiefeln kam er Jamie vor wie Frankensteins Monster, das ungeduldig auf den Bus wartete.
»Wir sind so weit«, sagte Dex, sobald Craigs Funkcheck abgeschlossen war. Er drehte sich zur Luftschleuse um.
»Moment noch«, sagte Jamie.
Trumball blieb stehen, drehte sich jedoch nicht wieder zu Jamie um. Craig schon.
»Ich weiß, dass ihr den Rover von A bis Z durchgecheckt habt«, sagte Jamie, »aber bitte denkt daran, dass er ein altes Gefährt ist und sechs Jahre draußen in der Kälte gestanden hat.«
»Das wissen wir«, sagte Trumball zur Schleusenluke.
»Ich will, dass ihr beim ersten Anzeichen von Problemen umkehrt«, befahl Jamie. »Ist das klar? Die Fahrzeuge, die ihr bergen wollt, sind kein Menschenleben wert, ganz gleich, wie viel Geld sie auf der Erde einbringen könnten.«
»Klar«, sagte Dex ungeduldig.
»Keine Sorge, ich bin kein Held«, setzte Craig hinzu.
Jamie holte tief Luft. »Possum, ich übertrage dir das Kommando bei dieser Expedition. Du bist der Boss. Dex, du befolgst jederzeit seine Anweisungen. Verstanden?«
Jetzt drehte Trumball sich in dem klobigen Raumanzug langsam und schwerfällig zu Jamie um.
»Was soll der Quatsch?« Seine Stimme war leise und ruhig.
»Befehlshierarchie, Dex. Possum ist älter und hat erheblich mehr praktische Erfahrung als wir beide. Er hat die Leitung. Immer, wenn ihr beide nicht einer Meinung seid, hat Possum das Sagen.«