Ihr Gesicht hellte sich nur ein wenig auf. »Ich weiß. Ich bin egoistisch. Aber trotzdem … verdammt! Ich wünschte, ich dürfte fliegen.«
»Du bist für uns im Moment zu wichtig, als dass wir dich auf einer Exkursion riskieren könnten. Wir brauchen dich hier, Stacy. Ich brauche dich hier.«
Deschurowa blinzelte überrascht. »Du?«
»Ja, ich.«
»So habe ich das nicht gesehen.«
»Finde den richtigen Weg, Stacy. Finde das Gleichgewicht, das Schönheit ins Leben bringt.«
»So machen es die Navajos, hm?«
»So funktioniert das.«
Sie wandte den Blick ab.
»Na schön«, sagte er und stand auf. »Dex und Possum sind unterwegs, und Tomas und Mitsuo müssten jetzt gerade in ihre Anzüge steigen, stimmt's?«
»Stimmt.« Sie stand ebenfalls auf.
Jamie schaute in ihre himmelblauen Augen und setzte ihr zuliebe ein Lächeln auf. »Es ist ja nicht so, als hättest du hier nichts zu tun«, sagte er.
Stacy zwang sich, sein Lächeln zu erwidern. »Ja. Du hast Recht.«
Sie ging zur Tür und drehte sich dann noch einmal um. »Ich wünschte einfach, ich wäre dort, wo was los ist.«
»Was du hier tust, ist außerordentlich wichtig«, gab Jamie zurück. »So ziemlich alles hängt von dir ab, Stacy.«
»Ja. Natürlich.«
Sie drehte sich um und verließ seine Kabine. Jamie stand einen Moment lang da und dachte, dass ihre Augen nur auf der Erde himmelblau waren. Der Marshimmel war fast immer in Schattierungen von Orangebraun gefärbt.
DOSSIER: ANASTASIA DESCHUROWA
Die Amerikaner nannten sie Stacy. Der Kosename ihres Vaters für sie lautete Nastasia.
Ihr Vater war Raketentechniker, ein hart arbeitender, nüchterner, humorloser Mann, dessen Arbeit ihn oftmals für lange Monate von ihrer Moskauer Wohnung wegführte. Meistens reiste er zu der riesigen Startanlage in der eintönigen, staubbraunen Wüste von Kasachstan und kam dann müde und griesgrämig, aber immer mit einer Puppe oder einem anderen Geschenk für seine kleine Tochter nach Hause zurück. Nastasia war die einzige Freude in seinem Leben.
Anastasias Mutter war Konzertcellistin im Moskauer Sinfonieorchester, eine heitere, intelligente Frau, die schon sehr früh in ihrer Ehe lernte, dass sich das Leben angenehmer gestaltete, wenn ihr Mann tausend Kilometer weit weg war. Dann konnte sie Parties geben, und die Wohnung hallte von Gelächter und Musik wider. Oftmals blieb einer der Männer die ganze Nacht.
Als Nastasia größer wurde und immer mehr mitbekam und verstand, ließ ihre Mutter sie schwören, dass sie nichts verraten würde. »Wir wollen deinem Vater doch nicht wehtun«, erklärte sie ihrer zehnjährigen Tochter. Später, als Nastasia ein Teenager war, pflegte ihre Mutter zu sagen: »Und du glaubst wirklich, er ist mir all die Monate treu, wenn er weg ist? So sind die Männer nicht.«
Auf der höheren Schule fand Nastasia heraus, wie die Männer waren. Einer ihrer Mitschüler lud sie zu einer Party ein. Auf dem Heimweg hielt er den Wagen an (er gehörte seinem Vater) und wurde zudringlich. Als Nastasia sich wehrte, zerriss er ihr die Kleider und vergewaltigte sie. Ihre Mutter weinte mit ihr und rief dann die Polizei. Die Ermittler gaben Nastasia das Gefühl, sie hätte das Verbrechen begangen und nicht der Junge. Der Vergewaltiger ging straflos aus, und sie war gebrandmarkt. Selbst ihr Vater stellte sich gegen sie; er sagte, sie habe dem Jungen offenbar den Eindruck vermittelt, sie sei leicht zu haben.
Als sie einen Studienplatz an der technischen Universität in Novosibirk bekam, verließ sie Moskau bereitwillig und mit Freuden und vergrub sich in ihrem Studium. Sie vermied jeden Umgang mit Männern und stellte fest, dass sie bei anderen Frauen Liebe, Wärme und Geborgenheit fand. Sie stellte auch fest, dass sie sehr intelligent und sehr tüchtig war. Es bereitete ihr große Freude, Männer auf Gebieten zu schlagen, auf denen sie sich für überlegen hielten. Sie lernte fliegen und wurde anschließend Kosmonautin; und nicht nur das, sie wurde die erste Kosmonautin, die ein Orbitalteam von zwölf Männern kommandierte; die erste Kosmonautin, die einen neuen Ausdauerrekord für den Aufenthalt an Bord einer Raumstation aufstellte; die erste Kosmonautin, die zum Mars flog.
NACHMITTAG: SOL 48
Es hatte eine zusätzliche Trägerrakete erforderlich gemacht, das Flugzeug und seine Ersatzteile zum Mars mitzunehmen. Die unbemannten Schwebegleiter waren klein und leicht, kaum mehr als Segelflugzeuge mit Solarmotoren, die sie vom Boden abheben ließen und auf eine Höhe brachten, in der sie sich von den Luftströmungen des Mars tragen lassen konnten. Das bemannte Flugzeug musste größer sein. Es musste Platz für zwei zerbrechliche Menschen und deren Lebenserhaltungssysteme bieten. Es musste genug Vorräte transportieren, um sie mehrere Tage am Leben zu erhalten. Es musste in unebenem Gelände starten und landen können. Und es musste genug Treibstoff und Sauerstoff mitnehmen können, um sie zum Olympus Mons und wieder zurück zu bringen, ohne zwischendurch aufzutanken.
»Das Ding ist ein fliegender Tanklaster«, witzelte Rodriguez mehr als einmal, während er das Flugzeug testete, seine Leistung prüfte und sich mit seinen Eigenarten vertraut machte. »Fliegt sich auch wie ein Tanklaster.«
Sie hatten mehrere Tage gebraucht, um eine Start- und Landebahn für das Flugzeug zu räumen und zu planieren. Die beiden kleinen Traktoren der Expedition, die darauf programmiert waren, unter Aufsicht aus der Kuppel selbsttätig zu arbeiten, schoben Felsen beiseite und ebneten kleinere Sanddünen ein, bis die Ingenieure auf der Erde mit der provisorischen Piste zufrieden waren. Der Landeplatz auf dem Olympus Mons würde nicht so eben sein, obwohl die Videos und Fotos, die der Schwebegleiter bei einem Dutzend Erkundungsflüge aus der Nähe aufgenommenen hatte, ausgedehnte Gebiete auf dem höchsten Berg des Sonnensystems zeigten, die so eben und frei von Hindernissen zu sein schienen, dass sie als Landeplatz dienen konnten.
Der ungeklärte Absturz eines der unbemannten Gleiter hatte Fuchidas Exkursion verzögert. Deschurowa, Rodriguez und die Missionsleiter in Tarawa versuchten eine Woche lang herauszufinden, warum der Schwebegleiter verschwunden war. Während der nächsten drei Wochen schickten sie die anderen beiden unbemannten Gleiter täglich zum Olympus Mons, ließen sie dieselbe Route fliegen wie den vermissten Gleiter und suchten nach Wrackteilen, Hinweisen, Erklärungen.
Endlich kam Jamie zu dem Schluss, dass es ihnen nicht gelingen würde, die Ursache für den Absturz des Gleiters zu eruieren. Entweder mussten sie Fuchidas Mission komplett streichen oder ihn trotz des Unglücks fliegen lassen. Jamie entschied sich für die Exkursion. Nach einem mehrtägigen, hektischen Meinungsaustausch mit Tarawa und Boston wurde seine Entscheidung bestätigt. Die endgültige Entscheidung über die Landung auf dem Vulkan würde allein bei Rodriguez liegen. Falls ihn diese Verantwortung nervös machte oder mit Sorge erfüllte, so ließ er es sich nicht anmerken. Als er und Fuchida in ihre Anzüge stiegen, wirkte er so glücklich wie ein junger Hund, der auf einem alten Strumpf herumkauen konnte.
»Ich werde ins Guinness-Buch der Rekorde kommen«, erklärte er Jamie fröhlich, als dieser ihm beim Anlegen des Anzugs half. Trudy Hall assistierte Fuchida, während Stacy Deschurowa im Kommunikationszentrum saß und die Systeme der Kuppel sowie die Ausrüstung draußen überwachte. Jamie hatte keine Ahnung, wo Vijay war, wahrscheinlich in ihrem Krankenrevier.
»Landung und Start mit einem Flugzeug vom höchstgelegenen Punkt«, quasselte Rodriguez munter, während er seine Finger in die Handschuhe des Anzugs fädelte. »Längster Flug mit einem bemannten Flugzeug mit Solarantrieb. Größte Höhe für ein bemanntes Flugzeug mit Solarantrieb. Ich könnte sogar den Rekord für den unbemannten Flug mit Solarantrieb brechen.«