»Ist es nicht unfair, einen Flug auf dem Mars mit Flügen auf der Erde zu vergleichen?«, fragte Trudy, während sie Fuchida half, den Lebenserhaltungstornister auf dem Rücken seines Raumanzugs zu befestigen.
Rodriguez schüttelte entschieden den Kopf. »Das Einzige, was in den Rekordbüchern zählt, sind die Zahlen, chica. Nur die Zahlen.«
»Werden sie nicht ein Sternchen neben die Zahlen setzen und eine Fußnote anfügen, in der steht: ›Das war auf dem Mars‹?«
Rodriguez versuchte, die Achseln zu zucken, aber nicht einmal er schaffte das in dem hartschaligen Anzug. »Wen interessiert's, solange sie meinen Namen richtig schreiben?«
Jamie fiel auf, dass Fuchida während der Ankleideprozedur kein Wort gesagt hatte. Tomas redet genug für beide, dachte er. Aber er fragte sich, ob Mitsuo sich Sorgen machte oder nervös war. Er wirkt ganz ruhig, aber vielleicht ist das nur eine Maske. Und überhaupt, so wie Tomas plappert, muss er dermaßen aufgedreht sein, als würde er gleich abheben — na ja, das tut er ja auch. Rodriguez quasselte in einem fort, wie ein Vertreter mit Maschinengewehr-Mundwerk. Jamie fragte sich, ob es die Anspannung war oder die Erleichterung darüber, auf sich selbst gestellt zu sein und das Sagen zu haben. Vielleicht war der Bursche aber auch einfach überglücklich über die Aussicht, fliegen zu dürfen, dachte Jamie.
Schließlich steckten beide Männer in ihren Anzügen, die Helmvisiere waren geschlossen, die Lebenserhaltungssysteme funktionierten und die Funkchecks waren beendet. Jamie und Trudy gingen mit ihnen zur Luftschleuse: zwei Erdenmenschen, die zwei schwerfällige Roboter begleiteten.
Jamie gab Rodriguez die Hand. Mit seinen bloßen Fingern kam er kaum um den Handschuh des Astronauten mit den servogesteuerten Exoskelett-›Knochen‹ auf dem Handrücken herum.
»Alles Gute, Tomas«, sagte er. »Geh da draußen keine unnötigen Risiken ein.«
Rodriguez grinste hinter seiner Sichtscheibe. »He, du weißt doch, wie es heißt: Es gibt alte Piloten und tollkühne Piloten, aber keine alten, tollkühnen Piloten.«
Jamie schmunzelte höflich. »Denk daran, wenn du da draußen bist«, sagte er.
»Mach ich, Boss. Keine Angst.«
Fuchida trat an die Luke, sobald Rodriguez hindurchgegangen war. Selbst in dem klobigen Anzug und mit der spatzenartigen Trudy Hall an seiner Seite wirkte er klein und irgendwie verletzlich.
»Alles Gute, Mitsuo«, sagte Jamie.
Der geschlossene Helm dämpfte Fuchidas Stimme, aber sie klang furchtlos. »Ich glaube, mein größtes Problem ist, dass ich mir auf dem ganzen Weg bis zum Berg Tommys Geplapper anhören muss.«
Jamie lachte.
»Und auf dem Rückweg wahrscheinlich auch«, setzte Fuchida hinzu.
Das Anzeigelämpchen sprang auf Grün, und Trudy drückte auf den Knopf, der die Innenluke öffnete. Fuchida ging mit seiner tragbaren Lebenserhaltungstasche in einer Hand hindurch.
»Sag Vijay, sie soll gut auf den Garten aufpassen«, rief er, als die Luke zuglitt. »Die Rüben brauchen viel Pflege.«
Es ist alles in Ordnung mit ihm, sagte sich Jamie. Er hat keine Angst, er macht sich nicht mal Sorgen.
Sobald sie auf die nebeneinander liegenden Sitze des Flugzeugs geklettert waren und sich an dessen interne Strom- und Lebenserhaltungssysteme angeschlossen hatten, veränderten sich beide Männer.
Rodriguez wurde sachlich und nüchtern. Kein Geplapper mehr. Er überprüfte die Flugzeugsysteme mit ein paar stenographischen Worten der Fliegerfachsprache an Stacy Deschurowa, die als Flugkontrolleurin fungierte.
Fuchida wiederum hämmerte der Puls so laut in den Ohren, dass er sich fragte, ob das Funkgerät in seinem Anzug es aufnahm. Die Kurven auf den medizinischen Monitoren mussten jedenfalls fast schon im roten Bereich sein, so sehr raste sein Herz.
Jamie, Vijay und Trudy Hall drängten sich um den Bildschirm auf dem Pult im Kommunikationszentrum, um über Deschurowas Schulter hinweg den Start zu verfolgen.
Als Flugplatz ließ die Basis viel zu wünschen übrig. Die provisorische Start- und Landebahn war nicht ganz zwei Kilometer lang. Eine Rollbahn gab es nicht; Rodriguez und ein Helfer — oftmals Jamie — drehten das Flugzeug nach der Landung einfach um, sodass es die Piste wieder vor der Nase hatte. Einen Windsack gab es ebenfalls nicht. Die Atmosphäre war so dünn, dass die Windrichtung beim Start kaum eine Rolle spielte. Die Raketentriebwerke brachten das Flugzeug in die Luft und auf die erforderliche Geschwindigkeit, damit die Tragflächen genug Auftrieb für den Flug erzeugten.
Jamie fühlte ein dumpfes Pochen in seinem Kiefer, als er sich über Deschurowa beugte und die letzten Momente vor dem Start mit ansah. Mit einer bewussten Anstrengung löste er die zusammengebissenen Zähne.
Das hier bereitet dir größere Sorgen als der Start des Generators, sagte er sich. Und wusste sofort, warum. In dem Flugzeug saßen zwei Menschen. Wenn etwas schief ging, wenn sie abstürzten, würden sie alle beide ums Leben kommen.
»Startfreigabe erteilt«, sprach Deschurowa mechanisch in ihr Lippenmikro.
»Verstanden, Startfreigabe«, sagte Rodriguez' Stimme aus den Lautsprechern.
Stacy schaute ein letztes Mal auf die Bildschirme um sie herum, dann sagte sie: »Klar zur Zündung.«
»Zündung.«
Auf einmal schoss eine tosende Stichflamme aus den beiden Raketentriebwerken unter den Flügelwurzeln, und das Flugzeug setzte sich abrupt in Bewegung. Während es, verfolgt von der Kamera, über die Start- und Landbahn holperte und dabei immer schneller wurde, schienen die langen, herabhängenden Tragflächen sich zu versteifen und auszustrecken.
»Komm schon, Baby«, sagte Deschurowa leise.
Jamie sah alles wie in Zeitlupe geschehen: Das Flugzeug rollte die Piste entlang, der Abgasstrahl der Triebwerke wurde so heiß, dass die Flamme unsichtbar wurde, Staub- und Sandwolken wallten hinter dem Flugzeug auf, als es immer schneller, immer schneller die Piste entlangraste. Die Nase hob sich.
»Sieht gut aus«, flüsterte Deschurowa.
Das Flugzeug hob rasant ab, schoss wie ein Pfeil in den makellosen Himmel und ließ eine wogende Wolke aus Staub und Dunst zurück, die sich auf ganzer Länge der Piste langsam auflöste. Für Jamie sah es so aus, als wollte die Wolke nach dem Flugzeug greifen und es wieder zu Boden ziehen.
Doch nun war das Flugzeug kaum mehr als ein Fleck am hellen, orangefarbenen Himmel.
Rodriguez' Stimme kam knisternd aus den Lautsprechern. »Nächste Haltestelle: Mount Olympus.«
OLYMPUS MONS
Der höchste Berg im Sonnensystem ist ein massiver Schildvulkan, der seit mehreren zehn oder vielleicht sogar hundert Millionen Jahren untätig ist.
Früher einmal stellten seine gewaltigen Lavaströme jedoch alles andere auf dem Planeten in den Schatten. Mit der Zeit entstand durch sie ein Berg, der dreimal so hoch ist wie der Mount Everest und eine Sohlfläche von der Größe Iowas hat. Die Ränder dieser Sohlfläche sind zerklüftete, über einen Kilometer hohe Felswände aus Basalt. Der Gipfel des Berges, wo riesige Calderen die Schlote kennzeichnen, die einst geschmolzenes Gestein spien, liegt etwa siebenundzwanzig Kilometer über der Ebene, auf der er ruht: 27 000 Meter. Zum Vergleich: Der Mount Everest ist 8848 Meter hoch.
Olympus Mons ist so hoch, dass sein Gipfel auf der Erde weit über die Troposphäre — die unterste Luftschicht, in der sich die Wettervorgänge abspielen — und beinahe auch noch über die gesamte Stratosphäre hinausragen würde. Auf dem Mars ist die Atmosphäre jedoch so dünn, dass der Luftdruck auf dem Gipfel von Olympus Mons nur zehn Prozent niedriger ist als am Boden.
Das Kohlendioxid, der Hauptbestandteil der Marsatmosphäre, kann in dieser Höhe ausfrieren, auf dem kalten, nackten Gestein kondensieren und es mit einer dünnen, unsichtbaren Trockeneisschicht überziehen.