NACHMITTAG: SOL 48
»Na, wie findest du's, uns alle drei für dich allein zu haben?«, fragte Vijay.
Jamie und die drei Frauen hatten sich gerade zu einem späten Mittagessen hingesetzt. Rodriguez und Fuchida würden in weniger als einer Stunde auf dem Olympus Mons landen. Trumball und Craig hatten vor ein paar Minuten berichtet, dass sie ohne Probleme Richtung Xanthe rollten.
Vijay hatte bei diesen Worten ein teuflisches Grinsen im Gesicht. Jamies Augenbrauen zogen sich zu einem leichten Stirnrunzeln zusammen.
»Ja«, fügte Trudy Hall hinzu. »Du hast die anderen Männer sehr geschickt aus dem Weg geräumt, nicht?«
Um seine Verlegenheit zu verbergen, wandte sich Jamie an Deschurowa. »Hast du nicht auch noch was dazu beizusteuern, Stacy?«
Stacy mampfte bereits ein eilig zusammengestoppeltes Sandwich. Sie kaute nachdenklich, schluckte und sagte dann: »Wie heißt das amerikanische Wort dafür? Kinky?«
Alle drei Frauen lachten; Jamie brachte ein gezwungenes Lächeln zustande und konzentrierte sich dann auf seinen Teller mit Pasta aus der Mikrowelle und Tofu-Kräutersalat.
Er war dankbar, als die Frauen miteinander über das Essen, den Geschmack des aufbereiteten Wassers und die Tatsache zu reden begannen, dass die Waschmaschine mit integriertem Trockner ihre Sachen ausbleichte. Sie trugen alle den üblichen Overall, aber Jamie fiel auf, dass jede von ihnen ihre Kleidung individualisiert hatte: Deschurowa hatte schicke russische Logos aus ihrer Zeit als Astronautin in Staatsdiensten auf ihre Brusttaschen genäht; Hall steckte sich immer glitzernden Modeschmuck an; Shektar fügte ein buntes Halstuch oder eine farbenfrohe Schärpe um die Taille hinzu.
»Wir sollten es mal mit dem Kleiderreinigungssystem der Mondbasis probieren«, sagte Deschurowa. »Das ist viel schonender fürs Material.«
»Davon hab ich gehört«, sagte Trudy. »Die bringen die Kleider einfach nach draußen, nicht?«
Stacy nickte eifrig. »Ja. Im Vakuum auf dem Mond blättert der Schmutz einfach ab. Und das ungefilterte ultraviolette Licht der Sonne sterilisiert alles.«
»Wir haben kein Vakuum draußen«, wandte Vijay ein.
»Aber beinahe«, entgegnete Stacy.
»Und jede Menge UV-Licht«, sagte Trudy.
»Was meinst du, Vijay?«, drängte Stacy. »Ist doch einen Versuch wert, nicht?«
»Wir bräuchten irgendeinen Behälter, oder? Man hängt die Sachen ja wohl nicht einfach auf die Leine.«
»Könnten wir aber tun, glaube ich«, sagte Trudy.
»In der Mondbasis packen sie die Kleider in einen großen Drahtkorb und lassen ihn auf einem Gleis hin und her fahren, das sie gebaut haben«, erklärte Stacy. »Der Korb dreht sich, wie die Trommel in einer Waschmaschine.«
»So was haben wir hier nicht.«
»Ich könnte eins bauen«, sagte Stacy zuversichtlich. »Müsste ganz einfach sein.«
»Glaubst du wirklich?«
Sie nickte ernst. »Possum ist hier nicht der Einzige mit geschickten Händen.«
»Was meinst du, Jamie?«, fragte Vijay.
Dankbar dafür, dass sie ihn nicht mehr aufzogen, antwortete er: »Was ist mit dem Staub? Der würde doch an die Kleider kommen, oder?«
»Auf dem Mond gibt es auch Staub«, meinte Trudy.
»Aber keinen Wind.«
»Oh. Ja.«
Stacy sagte: »Wir könnten das Korbgleis auf Pfähle bauen, ein Stück über dem Boden.«
»Wäre machbar«, gab Jamie zu.
»Sonst bleichen unsere Sachen immer mehr aus und werden immer dünner.«
»Früher oder später fallen sie dann vollständig auseinander«, sagte Trudy.
Vijays boshaftes Grinsen kehrte zurück. »Da hätte Jamie nichts dagegen, nicht wahr, Jamie?«
Er versuchte, sie so lange zu fixieren, bis sie wegschaute, gab es dann jedoch auf und stieß sich stattdessen vom Tisch zurück. »Tomas müsste sich in etwa fünf Minuten melden.«
Als er aufstand und ins Kommunikationszentrum floh, war er sicher, sie hinter seinem Rücken kichern zu hören.
Rodriguez war glücklich. Das Flugzeug reagierte auf alles, was er tat, wie eine schöne Frau, sanft und gutartig.
Sie schnurrten in — er warf einen raschen Blick auf den Höhenmesser — achtundzwanzigtausendsechs Metern dahin. Mal sehen, überlegte er. Ein Meter entspricht ungefähr drei Komma zwei Fuß, das sind also neunundachtzigtausend, fast neunzigtausend Fuß. Nicht schlecht. Gar nicht schlecht.
Er wusste, dass der Weltrekord für ein Flugzeug mit Solarantrieb bei über hunderttausend Fuß lag. Aber das war ein ULF gewesen, ein unbemanntes Luftfahrzeug. Kein Pilot war mit einem solarbetriebenen Flugzeug jemals so hoch geflogen, das wusste er. Hinter der Sichtscheibe seines Helms lächelte er den großen Sechsblattpropeller an, der vor seinen Augen träge rotierte.
Fuchida neben ihm gab keinen Mucks von sich und rührte sich nicht. Er könnte in seinem Anzug genauso gut tot sein, ich würde den Unterschied nicht merken, dachte Rodriguez. Er hat Angst, schlicht und einfach Angst. Er vertraut mir nicht. Er fürchtet sich davor, mit mir zu fliegen. Wahrscheinlich wär's ihm lieber gewesen, wenn Stacy ihn geflogen hätte und nicht ich.
Tja, mein schweigsamer japanischer Freund, aber nun hast du mich am Hals, ob's dir gefällt oder nicht. Also sitz ruhig wie eine beschissene Statue da, mir ist das piepegal.
Mitsuo Fuchida spürte, wie sich eine ungewohnte Ranke der Furcht durch seine Eingeweide schlängelte. Das verblüffte ihn, weil er nun seit beinahe zwei Jahren wusste, dass er zum Gipfel des Olympus Mons fliegen würde. Er hatte Hunderte von Simulationsflügen gemacht. Diese ganze Exkursion war seine Idee gewesen; er hatte hart darum gekämpft, dass sie in den Expeditionsplan aufgenommen wurde.
Als Biologiestudent hatte er Fliegen gelernt und war zum Präsidenten des Fliegerclubs der Universität gewählt worden. Mit der unbeirrbaren Zielstrebigkeit eines Bewerbers, der wusste, dass er die Besten der Besten schlagen musste, um ins Team der zweiten Marsexpedition aufgenommen zu werden, hatte Fuchida sich die Zeit genommen, sich über den Bergen im Innern von Kyushu, seiner Heimat, als Pilot von Ultraleichtfliegern zu qualifizieren, und hatte anschließend Schwebegleiter über die zerklüfteten Gipfel von Sinkiang gelenkt. Er hatte noch nie Angst vor dem Fliegen gehabt. Ganz im Gegenteiclass="underline" Er war in der Luft immer entspannt und glücklich gewesen, frei von all dem Druck und den Sorgen des Lebens.
Doch als die Sonne nun zum felsigen Horizont sank und die öde Landschaft in ein unheimliches rotes Licht tauchte, merkte Fuchida, dass er Angst hatte. Was, wenn das Triebwerk versagt? Wenn Rodriguez eine Bruchlandung auf dem Berg baut? Einer der unbemannten Schwebegleiter war bei einem Erkundungsflug über dem Berg abgestürzt; was, wenn uns dasselbe widerfährt? Selbst im rauen Sinkiang gab es eine vernünftige Chance, eine Notlandung zu überleben. Man konnte die Luft atmen und zu einem Dorf gehen, auch wenn man dazu viele Tage unterwegs war. Hier auf dem Mars aber nicht.
Was, wenn Rodriguez sich verletzt, während wir dort draußen sind? Ich habe dieses Flugzeug nur im Simulator geflogen; ich weiß nicht, ob ich es tatsächlich fliegen könnte. Rodriguez schien sich absolut wohlzufühlen, er war glücklich und begeistert, dass er fliegen konnte. Er beschämt mich, dachte Fuchida. Trotzdem … ist er wirklich tüchtig? Wie wird er in einem Notfall reagieren? Fuchida hoffte, er würde es nicht herausfinden müssen.
Links von ihnen lag Pavonis Mons, einer der drei riesigen, hintereinander aufgereihten Schildvulkane auf der Ostseite des Tharsis-Buckels. Er war so groß, dass er sich bis zum Horizont und darüber hinaus erstreckte, ein massiver Höcker aus festem Gestein, der einst glühend heiße Lava über ein Gebiet von der Größe Japans geschüttet hatte. Jetzt war er still. Kalt und tot. Für wie lange?