Eine ganze Reihe kleinerer Vulkane erstreckte sich bis zum Horizont, und hinter ihnen lag der ungeheure Olympus Mons. Was war hier geschehen? Wodurch war hier eine tausend Kilometer lange Kette von Vulkanen entstanden? Fuchida versuchte, sich mit dieser Frage zu beschäftigen, aber seine Gedanken wanderten immer wieder zu den Risiken zurück, die er einging.
Und zu Elisabeth.
DOSSIER: MITSUO FUCHIDA
Ihre Hochzeit hatte geheim gehalten werden müssen. Verheiratete durften nicht mit auf die Marsexpedition. Noch schlimmer, Mitsuo Fuchida hatte sich in eine Ausländerin verliebt, eine junge irische Biologin mit feuerrotem Haar und einer Haut wie weißes Porzellan.
»Schlaf mit ihr«, hatte sein Vater ihm geraten, »amüsier dich mit ihr, so viel du willst. Aber mach ihr keine Kinder! Du darfst sie auf gar keinen Fall heiraten.«
Elizabeth Vernon schien damit zufrieden zu sein. Sie liebte Mitsuo.
Sie hatten sich an der Universität von Tokio kennen gelernt. Wie er war sie Biologin. Anders als er hatte sie weder das Zeug noch den Drang, sich im Konkurrenzkampf um eine feste Stelle und eine Professur zu behaupten.
»Ich komme schon zurecht«, erklärte sie Mitsuo. »Mach dir deine Chance auf den Mars nicht kaputt. Ich werde auf dich warten.«
In Fuchidas Augen war das weder gut noch fair. Wie konnte er zum Mars fliegen, Jahre fern von ihr verbringen und erwarten, dass sie ihre Gefühle so lange auf Eis legte?
Sein Vater stellte ebenfalls andere Ansprüche an ihn.
»Der einzige Mensch, der bei der ersten Marsexpedition ums Leben gekommen ist, war dein Neffe Konoye. Er hat uns alle entehrt.«
Isoruku Konoye hatte bei dem Versuch, den kleineren Mond des Mars — Deimos — zu erkunden, einen tödlichen Herzschlag erlitten. Sein russischer Teamkamerad Leonid Tolbukhin sagte, Konoye sei in Panik geraten, erschrocken darüber, nur in einem Raumanzug außerhalb ihres Raumschiffs zu sein, desorientiert von Deimos' bedrohlich näherrückender felsiger Masse.
»Du musst die Ehre der Familie wiederherstellen«, betonte Fuchidas Vater nachdrücklich. »Du musst dafür sorgen, dass die Welt Japan respektiert. Dein Namensvetter war ein großer Krieger. Du musst seinem Namen neue Ehre machen.«
Mitsuo wusste also, dass er Elizabeth nicht offen und ehrlich heiraten konnte, wie er es am liebsten getan hätte. Stattdessen ging er mit ihr in ein Kloster in den abgelegenen Bergen von Kyushu, wo er seine Kletterkünste perfektioniert hatte.
»Das ist nicht nötig, Mitsuo«, protestierte Elizabeth, sobald ihr klar wurde, was er im Schilde führte. »Ich liebe dich. Eine Zeremonie wird daran nichts ändern.«
»Wäre dir ein katholischer Ritus lieber?«, fragte er.
Sie schlang ihm die Arme um den Hals. Er spürte Tränen auf ihrer Wange.
Als der Tag des Abschieds kam, versprach er Elizabeth, dass er zu ihr zurückkommen würde. »Und dann werden wir noch einmal heiraten, in aller Öffentlichkeit, sodass es die ganze Welt sieht.«
»Einschließlich deines Vaters?«, fragte sie ironisch.
Mitsuo lächelte. »Ja, sogar einschließlich meines wackeren Vaters.«
Dann flog er zum Mars, fest entschlossen, dem Namen seiner Familie Ehre zu machen und zu der Frau zurückzukehren, die er liebte.
SONNENUNTERGANG: SOL 48
Fuchidas Exkursionsplan sah vor, dass sie spätnachmittags landeten, fast schon bei Sonnenuntergang, wenn die tief stehende Sonne die längsten Schatten warf. Dadurch konnten sie den Flug bei hellem Tageslicht absolvieren und hatten bei ihrer Ankunft auf dem Olympus Mons die beste Sicht auf ihr Landegebiet. Jeder Felsblock, jeder Stein würde plastisch hervortreten, sodass sie die geeignetste Stelle für die Landung aussuchen konnten.
Das hieß aber auch, dass sie unmittelbar nach der Landung die dunklen, eisigen Nachtstunden durchstehen mussten. Was, wenn die Batterien versagten? Die Lithiumpolymer-Batterien waren jahrelang getestet worden, wie Fuchida wusste. Sie speicherten Strom, der bei Sonnenschein von den Solarzellen erzeugt wurde, und hielten die Ausrüstung des Flugzeugs während der langen, kalten Stunden der Dunkelheit in Gang. Was jedoch, wenn sie versagten, und das bei Temperaturen von siebzig bis neunzig Grad minus?
Rodriguez gab ein seltsames Stöhnen von sich. Fuchida drehte sich abrupt zu dem neben ihm sitzenden Astronauten um, sah aber nur das Innere seines eigenen Helms. Er musste sich in den Schultern drehen, um den Piloten in seinem Raumanzug zu sehen — er summte tonlos vor sich hin.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte Fuchida nervös.
»Klar.«
»War das ein mexikanisches Lied, was du da gesummt hast?«
»Nee. Die Beatles. ›Lucy in the Sky with Diamonds‹.«
»Oh.«
Rodriguez seufzte glücklich. »Da ist sie«, sagte er.
»Wie bitte?«
»Miss Mount Olympus.« Er zeigte nach vorn.
Fuchida sah keinen Berg, sondern nur den Horizont. Jetzt, wo er genauer hinschaute, wirkte er rundlich: ein riesiger, sanft ansteigender Buckel.
Er wuchs, als sie näher kamen. Und wuchs. Und wuchs. Und wuchs. Olympus Mons war eine ungeheure Insel für sich, ein Kontinent, der sich aus der trostlosen roten Ebene erhob wie ein gigantisches, mythisches Untier. Die Flanken über den steilen Abhängen an seinem Fuß stiegen sanft an. Diese Steigung konnte man mühelos erklimmen, dachte Fuchida. Dann wurde ihm klar, dass man bei den gewaltigen Dimensionen des Berges Wochen brauchen würde, um vom Fuß zum Gipfel zu gelangen.
Rodriguez summte wieder, ruhig und entspannt, wie ein Mann, der zu Hause in seinem Lieblingssessel sitzt.
»Du fliegst gern, nicht wahr?«, meinte Fuchida.
»Du weißt ja, wie es heißt«, erwiderte Rodriguez, ein heiteres Lächeln in der Stimme. »Fliegen ist das Zweitaufregendste, was ein Mann tun kann.«
Fuchida nickte in seinem Helm. »Und das Aufregendste ist bestimmt Sex, nicht wahr?«
»Nein. Das Landen.«
Fuchida versank in düsteres Schweigen.
Jamie war im Kommunikationszentrum, schaute konzentriert auf den Immersionstisch und versuchte, nicht auf seine Armbanduhr zu blicken.
Tomas ruft gleich nach der Landung an. Es hat keinen Sinn, dass er sich meldet, bevor sie sicher unten sind. Inzwischen hat er wahrscheinlich den Berg erreicht, sieht sich um und vergewissert sich, dass das Gebiet tatsächlich für eine Landung geeignet ist.
Hinter sich hörte er Stacy Deschurowa kurz und knapp sagen: »Sie sind jetzt über dem Berg. Funksignal ist stark und klar, Telemetriedaten kommen durch. Keine Probleme.«
Jamie nickte, ohne sich umzudrehen. Der Immersionstisch zeigte eine dreidimensionale Karte von Tithonium Chasma, aber wenn man den Kopf wegzog, verlor man die räumliche Wahrnehmung und musste eine ganze Weile die Augen zusammenkneifen und den Kopf hin und her bewegen, bis man die Karte wieder in 3D sah.
Er hatte das elektronische Display markiert, sodass sich die Nische in der Felswand mit dem … Artefakt darin, wie Jamie es nannte, deutlich in Weiß abhob. Ist nicht so weit von dem Erdrutsch entfernt, auf dem wir zum Grund des Canyons hinuntergefahren sind, dachte er. Aber wir würden uns eine Tagesreise sparen, wenn wir direkt zu der Stelle führen und ich mich dann an einem Seil runterlassen würde. Hat keinen Sinn, in den Canyon hinunterzufahren; die Nische ist im obersten Viertel der Felswand.
Er wusste, dass es auch noch andere Nischen in der Wand des Canyons gab. Enthielten auch sie Gebäude? Und wir haben uns noch nicht mal die Südwand des Canyons angesehen. In den Felswänden könnten sich Dutzende von Dörfern aneinander reihen. Hunderte.
Hinter sich hörte er jemanden ins Kommunikationszentrum kommen, dann fragte Vijays leise, kehlige Stimme: »Schon was von ihnen gehört?«
»Noch nicht«, sagte Stacy.