Dann fragte Trudy: »Gibt's irgendwas Neues?«
»Noch nicht«, wiederholte Deschurowa.
Jamie gab den Versuch auf, seine Exkursion zu planen. Er schaltete das dreidimensionale Display ab, und es verwandelte sich in einen normalen Glastisch. Dann drehte er sich zu Deschurowa um, die an der Kommunikationskonsole saß. Der Hauptbildschirm zeigte eine Reliefkarte von Olympus Mons und einen winzigen, leuchtend roten Punkt, der langsam darüber hinwegkroch: das Flugzeug mit Rodriguez und Fuchida an Bord.
»Rodriguez an Basis«, kam die Stimme des Astronauten auf einmal knisternd aus dem Lautsprecher. »Mache einen Probeüberflug über das Landegebiet. Schicke euch mein Kamerabild rüber.«
»Basis an Rodriguez«, antwortete Deschurowa kühl und sachlich. »Probeüberflug, verstanden.« Ihre Finger flogen über die Tastatur, und auf dem Hauptbildschirm war auf einmal eine pockennarbige, mit Felsblöcken übersäte Strecke aus nacktem Gestein zu sehen. »Wir haben Ihr Bild.«
Jamie merkte, wie sein Mund trocken wurde. Wenn dies das Landegebiet ist, kommen sie nie im Leben heil runter.
Rodriguez brachte das Flugzeug in eine leichte Querlage, damit er den Boden besser sehen konnte. Für Fuchida sah es so aus, als würde das Flugzeug auf der linken Flügelspitze stehen, während der harte, nackte Stein unten sich langsam im Kreis drehte.
»Tja«, sagte Rodriguez, »wir haben die Wahclass="underline" Felsblöcke oder Krater.«
»Wo ist die freie Fläche, die uns die Schwebegleiter gezeigt haben?«, fragte Fuchida.
»›Frei‹ ist ein relativer Begriff«, murmelte Rodriguez.
Fuchida schluckte Galle. Sie brannte in seiner Kehle.
»Rodriguez an Basis. Ich umrunde das Landegebiet noch mal. Sagen Sie mir, ob Sie irgendwas sehen, was mir entgeht.«
»Verstanden, erneute Umrundung.« Stacy Deschurowas Ton war knapp, professionell.
Rodriguez spähte angestrengt auf den Boden hinunter. Die sinkende Sonne warf lange Schatten, die jeden Kiesel und jede Kuhle dort unten hervorhoben. Zwischen einem neu aussehenden Krater und verstreuten Steinen war eine relativ freie, über einen Kilometer lange Fläche. Platz genug zum Landen, wenn die Bremsraketen auf Befehl zündeten.
»Sieht gut aus, finde ich«, sagte er in sein Helmmikro.
»Das nun nicht gerade«, erwiderte Deschurowas Stimme.
»Die Räder werden mit kleinen Steinen fertig.«
»Stoßdämpfer sind kein Ersatz für ebenen Boden, Tomas.«
Rodriguez lachte. Er und Deschurowa hatten diese Diskussion schon ein paar Dutzend Mal geführt, seit die ersten Erkundungsfotos der ULFs eingegangen waren.
»Wende zum Landeanflug«, meldete er.
Deschurowa antwortete nicht. Als Flugkontrolleurin hatte sie die Befugnis, ihm die Landung zu verbieten.
»Setze zum Landeanflug an.«
»Ihr Bild wackelt ein bisschen.«
»Lichtstärke nimmt rasch ab.«
»Ja.«
Fuchida sah den Boden auf sich zurasen. Er war mit Felsbrocken übersät und von Kratern zernarbt und wirkte so hart wie Beton, oder noch härter. Sie kamen zu schnell herunter, dachte er. Er wollte den t-förmigen Steuerknüppel vor sich packen und die Maschine hochziehen, die Raketentriebwerke zünden und dann nur weg, nichts wie weg, solange sie noch die Chance dazu hatten. Stattdessen kniff er die Augen zu.
Etwas traf das Flugzeug so hart, dass Fuchida glaubte, er würde durch das Kanzeldach geschleudert. Sein Sicherheitsgurt hielt jedoch, und fast im selben Moment hörte er das heulende Kreischen der winzigen Bremsraketenmotoren. Das Vorderteil des Flugzeugs schien in Flammen zu stehen. Holpernd und hüpfend ratterten sie dahin wie eine Blechdose, die jemand über ein Geröllfeld gekickt hatte.
Dann ein letztes Schwanken, und aller Lärm und jede Bewegung hörten auf.
»Wir sind unten«, schrie Rodriguez. »Kinderspiel.«
»Gut«, sagte Deschurowas Stimme gleichmütig.
Fuchida musste dringend pinkeln.
»Okay«, sagte Rodriguez zu seinem Partner. »Jetzt bleiben wir einfach bis Sonnenaufgang hier drin sitzen.«
Wie zwei Sardinen in einer Dose, dachte Fuchida, während er sich in den eingebauten Abführschlauch in seinem Anzug erleichterte. Dass sie versuchen sollten, in den Cockpit-Sitzen zu schlafen, eingeschlossen in ihren Anzügen, behagte ihm gar nicht. Aber das war der Preis, den man für die Ehre bezahlen musste, als erste Menschen den Fuß auf den höchsten Berg im Sonnensystem zu setzen.
Beinahe hätte er gelächelt. Ich werde auch ins Guinness-Buch der Rekorde kommen, dachte er.
»Alles in Ordnung?«, fragte Rodriguez.
»Ja, natürlich.«
»Du bist so still, Mitsuo.«
»Ich bewundere die Aussicht«, sagte Fuchida.
Nichts als eine kahle Fläche aus nacktem Gestein, wohin man auch schaute. Der Himmel über ihnen wurde rasch dunkel. Fuchida konnte schon ein paar Sterne sehen, die auf sie herabblickten.
»Jetzt sind wir endlich ganz oben!«, witzelte Rodriguez. Er gluckste fröhlich, als könnte ihn nichts auf der Welt erschüttern. Nichts auf zwei Welten.
DOSSIER: TOMAS RODRIGUEZ
»Zeig niemals Furcht.« Tomas Rodriguez lernte das als dürres, asthmatisches Kind, das in einem von Verbrechen und Gewalt geprägten Barrio in der Innenstadt von San Diego aufwuchs.
»Zeig ihnen nie, dass du Angst hast«, erklärte ihm sein älterer Bruder Luis. »Drück dich nie vor einem Kampf.«
Tomas war zwar nicht stark, aber sein großer Bruder beschützte ihn. Meistens. Dann fand er gewissermaßen Zuflucht in dem heruntergekommenen Fitness-Center des Viertels, wo er stundenlang wischte und sauber machte und dafür kostenlos die Geräte benutzen durfte. Als er an Muskelmasse zulegte, brachte Luis ihm die Anfangsgründe des Straßenkampfs bei. In der Middle School sah ihn ein älterer Koreaner, der an der Schule unentgeltlich Kampfkünste lehrte, und nahm ihn in seine Gruppe auf.
Auf der High School entdeckte er, dass er intelligent war, so intelligent, dass er Algebra nicht nur verstand, sondern verstehen wollte, ebenso wie die anderen Geheimnisse der Mathematik und der Wissenschaft. Er befreundete sich mit den Außenseitern und den Sportskanonen und beschützte Erstere oftmals vor den Schikanen und der beiläufigen Grausamkeit Letzterer.
Er wuchs zu einem kräftigen, breitschultrigen Jugendlichen mit schnellen Reflexen heran, der jedoch klug genug war, Konfrontationen eher mit Worten als mit den Fäusten zu klären. Er suchte keinen Streit, konnte sich aber durchaus behaupten, wenn eine Prügelei unausweichlich wurde. Er arbeitete, er lernte, er hatte jene sonnige Grundeinstellung — und entschlossene körperliche Courage —, die selbst die übelsten Rabauken in der Schule dazu brachte, ihn in Ruhe zu lassen. Er spielte nie in einer der Schulmannschaften, und er nahm nie Drogen. Er rauchte auch nicht. So einen Luxus konnte er sich nicht leisten.
Er ging nicht einmal in die Falle, in der sich die meisten seiner Freunde fingen: Vaterschaft. Ob sie nun heirateten oder nicht, die meisten Jungs waren sehr schnell an eine Frau gebunden. Tomas hatte jede Menge Mädchen und lernte noch vor der High School die Freuden des Sex kennen. Aber er ging nie eine dauerhafte Beziehung ein. Er wollte es nicht. Die Mädchen aus dem Viertel waren attraktiv, das schon, aber nur, bis sie anfingen zu reden. Tomas konnte allein schon die Vorstellung nicht ertragen, einer von ihnen mehr als ein paar Stunden zuhören zu müssen. Sie hatten nichts zu sagen. Ihr Leben war leer. Er sehnte sich nach mehr.
Die meisten Lehrer an der High School waren Nullen, aber einer — der müde alte Mann, der Mathe unterrichtete — ermutigte ihn, sich um ein Stipendium fürs College zu bewerben. Zu Tomas' gewaltiger Überraschung gewann er eins: die kompletten Studiengebühren für ein Studium an der University of California in San Diego. Da er sich die anderen Ausgaben trotzdem nicht leisten konnte, hörte er erneut auf den Rat seines Mentors und ging zur Air Force. Uncle Sam übernahm sämtliche anfallenden Kosten für sein Studium, und sobald er seinen Abschluss in der Tasche hatte, wurde er Kampfpilot. »Macht mehr Spaß als Sex«, pflegte er zu behaupten, und fügte immer hinzu: »Fast.«