Der Weg zur Hölle neigte sich ganz allmählich, wie er wusste. Er würde bald steil genug werden.
Dann rutschten ihm beide gestiefelten Füße unter dem Leib weg.
TAGEBUCHEINTRAGUNG
Manchmal glaube ich, ich bin unsichtbar. Sie sehen mich einfach nicht. Ich bin mitten unter ihnen und mache meine Arbeit, aber für sie bin ich nicht da. Ich spreche, aber sie hören mich nicht. Zumindest hören sie nicht zu. Ich bin genauso gut wie jeder von ihnen, aber sie schauen fast immer einfach durch mich hindurch. Unsichtbar. Ich bin für sie nicht vorhanden.
NACHMITTAG: SOL 49
»Alles in Ordnung?«, fragte Rodriguez' Stimme aus Fuchidas Helmlautsprechern. Er klang nervös.
»Ich habe eine glatte Stelle erwischt. Hier muss es im Schatten Flecken geben, wo das Gestein von Trockeneis überzogen ist.«
Der Biologe lag auf der Seite; seine Hüfte pochte schmerzhaft von seinem Sturz. Wenn das so weitergeht, dachte er, bin ich von der Taille abwärts bald grün und blau.
»Kannst du aufstehen?«
»Ja. Natürlich.« Fuchida war eher peinlich berührt als verletzt. Er hielt sich wütend am Seil fest und zog sich hoch. Selbst bei der Drittelschwerkraft des Mars kostete ihn das einige Anstrengung, weil der Anzug und das Tornistergerät schwer auf ihm lasteten und die ganze Ausrüstung an seinem Gurt und seinem Geschirr baumelte.
Sobald er auf den Beinen war, starrte er erneut in die Dunkelheit des gähnenden Schlunds der Caldera. Wie das Maul eines riesigen Tieres, sagte eine Stimme in seinem Kopf. Wie das Tor zur ewigen Hölle.
Er holte tief Luft und sagte dann in sein Helmmikrofon: »Okay. Ich steige weiter hinunter.«
»Sei vorsichtig, Mann.«
»Danke für den guten Tipp«, knurrte Fuchida.
Sein Ärger schien Rodriguez nicht zu stören. »Vielleicht sollte ich das Seil straffer halten«, schlug er vor. »Damit es nicht so durchhängt.«
Fuchida, der seinen Jähzorn bereute, stimmte zu: »Ja, dann kann ich mich vielleicht besser auf den Beinen halten.« Die Hüfte tat wirklich weh, und sein Hintern schmerzte noch von dem ersten Sturz.
Was für ein Glück, dass der Anzug nicht beschädigt worden ist, dachte er. Oder das Tornistergerät.
»Okay, ich hab die Spannung justiert. Also, immer mit der Ruhe.«
Auch eine Reise von tausend Meilen beginnt mit einem einzelnen Schritt. Mitsuo Fuchida zitierte Laotses alten Spruch, als er einen gestiefelten Fuß auf den Boden vor sich setzte. Der nackte Fels schien guten Halt zu bieten.
Man kann das Eis nicht sehen, sagte er sich. Die Schicht ist zu dünn, als dass sie sichtbar wäre. Mehrere Dutzend Meter rechts von ihm fiel das Sonnenlicht auf die langsam steiler abfallende Flanke der Caldera. Dort wird kein Eis sein, dachte Fuchida. Er bewegte sich langsam in diese Richtung und prüfte bei jedem Schritt, ob seine Füße festen Halt fanden.
Das Seil war vorn an der Brust angebracht, damit er es leicht aushaken konnte, wenn nötig. Wegen der stärkeren Spannung des Seils fiel ihm das Gehen nun sehr viel schwerer. Fuchida kam sich beinahe wie eine Marionette an einem Faden vor.
»Lass ein bisschen lockerer«, rief er Rodriguez zu.
»Bist du sicher?«
Er drehte sich um, schaute zu seinem Teamkameraden hoch und stellte verblüfft fest, dass der Astronaut nicht mehr als ein winziger Klecks hoch oben am Rand war, eine kleine Gestalt im hellen Sonnenschein vor dem tiefblauen Himmel.
»Ja, ich bin sicher«, sagte er mit erzwungener Geduld.
Kurz darauf fragte Rodriguez: »Wie ist es so?«
Der Unterschied war kaum wahrnehmbar, aber Fuchida antwortete: »Besser.«
Etwa zwanzig Meter weiter unten sah er ein von der Sonne beschienenes Sims und beschloss, dorthin zu gehen. Langsam und vorsichtig stieg er ab.
»Ich sehe dich nicht.« Rodriguez' Stimme klang nicht übermäßig besorgt.
Fuchida schaute nach oben. Er sah nur den tiefblauen Himmel und das sanft abfallende, kahle Gestein. Und das Seil, das ihn hielt, seine Rettungsleine.
»Alles in Ordnung«, sagte er. »Ich zeichne meinen Abstieg mit den VR-Kameras auf. Da unten ist ein Sims, da mache ich Halt und schlage ein paar Steinproben ab.«
»Ich sag dir was: Wir hätten zum Landeplatz des Pathfinder fliegen sollen«, sinnierte Wiley Craig, während er den Rover durch den trockenen, kalten Nachmittag über die kahle Ebene steuerte.
»Keine Lust mehr zu fahren?«, fragte Dex Trumball, der auf dem rechten Cockpitsitz hockte.
»Bisschen langweilig momentan.«
»Hab ich alles gründlich durchdacht«, sagte Dex. »Das Raketenflugzeug hat nicht die erforderliche Reichweite für den Flug zum Ares Vallis.«
»Wir hätten zum Treibstoffgenerator fliegen und da auftanken können, so wie wir's mit der Karre hier machen.«
»Vielleicht. Aber wir hätten mehrmals auftanken müssen, und das hätte mindestens noch zwei Sprünge für den Generator bedeutet. Und zwei weitere Landungen für das Flugzeug.«
»Zu riskant, hm?«
»Ach, das Risiko würde mir nichts ausmachen«, sagte Dex rasch. »Aber das Raketenflugzeug könnte die alten Geräte gar nicht transportieren. Jedenfalls nicht zusammen mit einer vollen Treibstoffladung.«
Craig ließ einen langen Seufzer ertönen, der fast schon ein Stöhnen war. »Also fahren wir.«
»Wir kommen schon hin, Wiley.«
»Aber furchtbar langsam.«
»Wir stellen einen neuen Rekord für eine Überlandtraverse auf einer anderen Welt auf. Wenn wir wieder in der Basis sind, haben wir annähernd zehntausend Klicks zurückgelegt.«
»Mehr als die Jungs, die das Mare Imbrium auf dem Mond umrundet haben?«
»Auf alle Fälle. Die haben nur zweitausendfünfhundert Kilometer geschafft.«
»Hm.«
»Schlappe Säcke.«
»Dödelkram.«
Trumball grinste seinen Partner an. Auf beider Kinn und Wangen machten sich die stoppeligen Ansätze eines Bartes breit; sie hatten vereinbart, sich bis zur Rückkehr zur Basis nicht zu rasieren.
»Wir fahren über einen ehemaligen Meeresboden«, sagte Trumball mit einer Handbewegung zu dem hügeligen Gelände draußen. »Wenn wir anhalten und ein bisschen graben würden, fänden wir unter Garantie jede Menge Fossilien.«
Craig sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Und woran willste erkennen, ob irgendwas 'n Fossil is oder ob du's nur mit altem Gestein zu tun hast? Denkste, du findest Trilobiten oder einen gekammerten Nautilus, der genauso aussieht wie die Fossilien auf der Erde?«
Dex atmete tief durch. Es klang fast wie ein Seufzer. »Ich weiß das, Wiley. Das hab ich Jamie schon an dem Tag erklärt, als wir gelandet sind.«
Craig grunzte.
Nach einem kurzen Schweigen sagte Dex: »Ich will dich mal was fragen, Wiley.«
»Was denn?«
»Es geht um diese Diskussion, ob wir die Basis in den Canyon verlegen sollten: Auf welcher Seite stehst du? Auf meiner oder auf der von Jamie?«
Jamie starrte das dreidimensionale Bild der Felswand an. Er beugte sich über das Display des Immersionstisches und konzentrierte sich, als könnte er das alte Dorf durch reine Willenskraft zwingen, vor seinen Augen zu erscheinen.
Stacy Deschurowa saß wie üblich an der Kommunikationskonsole. Trudy und Vijay kümmerten sich um den hydroponischen Garten. Und Jamie wurde immer ungeduldiger.
Ich hätte Dex gar nicht erst zu dieser verrückten Exkursion aufbrechen lassen dürfen, sagte er sich. Nicht nur, dass ich deshalb Krach mit seinem Vater kriege, es vermasselt mir auch noch die Mission zu dem alten Dorf.
Jamie wusste, dass er nicht zum Canyon fahren konnte, solange vier Expeditionsmitglieder draußen unterwegs waren. Er musste warten, bis sie zur Kuppel zurückkehrten. Fuchida und Rodriguez würden in ein paar Tagen wiederkommen, sofern sie nicht in Schwierigkeiten gerieten. Aber Trumball und Craig würden frühestens in rund vier Wochen zurück sein.