Mach dich deswegen nicht verrückt, sagte er sich stumm. Hab Geduld. Wenn es sich bei dem, was sich da in die Klippen schmiegt, wirklich um ein altes Dorf handelt, dann ist es schon sehr, sehr lange dort. Ein paar Wochen mehr oder weniger machen da auch nicht viel aus.
Trotzdem brannte er darauf, dorthin aufzubrechen, aus dieser Kuppel herauszukommen, hinaus ins Gelände, weg von den anderen.
Weg von Vijay, erkannte er.
Sie hat es geschafft, dass ich so angespannt bin wie eine bis zum Anschlag aufgezogene Feder. Erst nein, dann ja, und jetzt vielleicht. Tut sie das mit Absicht? Will sie mich verrückt machen? Ist das ihre Art von Humor?
Seltsamerweise merkte er, dass er bei dem Gedanken grinste. Wir sind ja schon verrückt. Sonst wären wir nicht hier. Das verleiht dem Irrsinn nur eine weitere, neue Dimension.
Sei gelassen, riet der Navajo in ihm. Suche den Weg des Gleichgewichts. Nur wenn du im Gleichgewicht bist, kannst du Schönheit finden.
Sex. Wir machen ein Riesengewese darum. Und weshalb? Sie wird nicht schwanger werden. Nicht hier. Nicht, wenn sie es nicht wirklich will, und dazu ist sie zu klug. Was macht es also schon aus, wenn man mal kurz miteinander in die Kiste springt?
Dann dachte er an ihr Geständnis, dass sie mit Trumball geschlafen hatte, und begriff, dass Sex ein Kurzschluss sein konnte, der eine Explosion auslöste.
Immer eins nach dem anderen, dachte er. Einen Tag nach dem anderen. Dann grinste er erneut. Eine Nacht nach der anderen.
Deschurowas Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. »Jamie, das solltest du dir ansehen.«
Jamie richtete sich auf, merkte, wie seine Wirbel knackten, und drehte sich zur Kommunikationskonsole um, wo Stacy mit einem Headset auf dem strähnigen, sandblonden Haar saß.
»Was gibt's?«
»Die letzte Wettervorhersage von Tarawa.«
Jamie sah eine Polarprojektionskarte beider Hemisphären des Mars nebeneinander auf Deschurowas Hauptbildschirm. Meteorologische Isobaren und Symbole für Hoch- und Tiefdruckgebiete waren darauf verteilt.
Stacy tippte mit einem Fingernagel auf ein rotes T weit unten in der südlichen Hemisphäre. Jamie fiel auf, dass ihre Nägel manikürt und dunkelrot lackiert waren.
»Das ist ein Staubsturm«, sagte sie.
Jamie beugte sich über ihre Schulter, um sich die Karte genauer anzusehen. Er nickte. Und bemerkte, dass Stacy ein blumiges Parfüm aufgelegt hatte.
»Ganz unten auf der anderen Seite von Hellas«, murmelte er.
»Aber sie sagen voraus, dass er wachsen wird.« Sie drückte auf eine Taste, und die Karte für den nächsten Tag erschien auf dem Bildschirm. Der Sturm war größer und zog nach Westen.
»Immer noch ein gutes Stück unterhalb des Äquators«, sagte Jamie.
»Trotzdem.«
»Kannst du ein Echtzeitbild des Gebiets aufrufen?«
»Auf zwei«, erwiderte sie. Der Bildschirm direkt zu ihrer Rechten wurde hell und zeigte ein Satellitenbild der Region.
»Ein Staubsturm, klarer Fall«, sagte Jamie. »Ganz schön groß.«
»Und er wird größer.«
Er überlegte laut. »Selbst wenn er zu globaler Größe heranwächst, wird es über eine Woche dauern, bis er uns hier zu schaffen macht. Bis dahin sind Fuchida und Rodriguez längst zurück.«
»Aber Dex und Possum …«
Jamie stellte sich Dex' Reaktion vor, wenn er wegen der Möglichkeit, in einen Staubsturm zu geraten, zur Basis zurückbeordert wurde. Ich müsste ihm den Befehl erteilen zurückzukommen, dachte Jamie. Und es könnte sein, dass er ihn einfach ignoriert.
»Sag Tarawa, dass ich sofort mit den Meteorologen sprechen muss«, wandte er sich an Stacy.
»Okay.«
»He, Mitsuo«, rief Rodriguez.
Fuchida blickte automatisch auf. Aber der Astronaut war nicht mehr zu sehen. Fuchida war allein auf dem Sims unten in der abschüssigen, steinernen Flanke der Caldera. Das Buckyball-Seil, das ihn mit der Winde oben verband, übertrug auch den Anzugfunk, über den sie miteinander sprachen.
»Was ist?«, erwiderte er, froh darüber, Rodriguez' Stimme zu hören.
»Wie sieht's aus, Mann?«
»Kommt darauf an«, sagte Fuchida.
»Worauf?«
Der Biologe zögerte. Er arbeitete nun schon stundenlang an diesem Felsensims, schlug Proben ab, maß den Wärmestrom, trieb geduldig einen Bohrer in den harten Basalt, um zu sehen, ob in dem Gestein womöglich Wassereis eingeschlossen war.
Er befand sich jetzt im Schatten. Die Sonne war weitergezogen. Als er hochschaute, sah er erleichtert, dass der Himmel immer noch dunkelblau war. Da oben war es noch hell. Rodriguez würde ihn nicht bis nach Sonnenuntergang hier unten bleiben lassen, das wusste er, dennoch war es ein tröstliches Gefühl, dass es oben noch helllichter Tag war.
»Darauf, wonach man sucht«, antwortete er langsam. »Ob man Geologe oder Biologe ist.«
»Aha«, sagte Rodriguez.
»Ein Geologe wäre hier überglücklich. In diesem Gestein ist noch immer eine beträchtliche Menge Wärme gefangen. Viel mehr, als allein durch die Sonnenerwärmung zu erklären ist.«
»Du meinst, der Vulkan ist noch aktiv?«
»Nein, nein, nein. Er ist tot, aber der Leichnam ist noch warm — jedenfalls ein bisschen.«
Rodriguez antwortete nicht.
»Ist dir klar, was das bedeutet? Dieser Vulkan muss viel jünger sein, als man bisher dachte. Viel jünger!«
»Wie jung?«
»Vielleicht nur ein paar Millionen Jahre alt«, sagte Fuchida aufgeregt. »Nicht älter als zehn Millionen.«
»Klingt für mich ziemlich alt, Amigo.«
»Aber es könnte hier Leben geben! Wenn Wärme vorhanden ist, enthält das Gestein vielleicht auch flüssiges Wasser.«
»Ich dachte, Wasser kann auf dem Mars nicht flüssig bleiben.«
»Nicht an der Oberfläche.« Fuchida spürte, dass er vor Aufregung vibrierte. »Aber tiefer drin, im Gestein, wo der Druck höher ist … da vielleicht schon …«
»Sieht ziemlich finster aus da unten.«
»Ist es auch«, antwortete Fuchida und spähte über den Rand des Simses, auf dem er saß. Die Anzugheizung schien bestens zu funktionieren; in diesem Halbdunkel mochte es über siebzig Grad unter Null sein, aber ihm war angenehm warm.
»Gefällt mir nicht, dass du da unten im Dunkeln bist.«
»Mir auch nicht, aber deshalb sind wir hier, oder?«
Keine Antwort.
»Ich meine, wir haben noch etliche hundert Meter Seil auf der Rolle, stimmt's?«
Rodriguez sagte: »Elfhundertzweiundneunzig, der Anzeige zufolge.«
»Dann kann ich noch ein ganzes Stück weiter hinunter.«
»Die Dunkelheit gefällt mir nicht.«
»Meine Helmlampe funktioniert prima.«
»Trotzdem …«
»Mach dir deswegen keine Sorgen«, sagte Fuchida mit Nachdruck und brachte den Astronauten damit zum Schweigen. Es war schon schlimm genug, seine eigenen Ängste bekämpfen zu müssen; mit denen von Rodriguez wollte er sich nicht auch noch belasten.
»Ich habe eine Spalte am Ende dieses Simses gesehen«, erklärte er dem Astronauten. »Sieht aus wie die Öffnung eines alten Lavaschlots. Er führt wahrscheinlich ein beträchtliches Stück in die Tiefe.«
»Findest du, das ist eine gute Idee?«
»Ich werde mal einen Blick hineinwerfen.«
»Geh aber kein unnötiges Risiko ein.«
Fuchida stand langsam auf. Er verzog das Gesicht. Sein ganzer Körper schmerzte von den Prellungen, die er sich bei seinen Stürzen zugezogen hatte, und er war völlig steif, nachdem er so lange auf dem Sims gesessen hatte. Beweg dich vorsichtig, warnte er sich. Das Gestein hier unten ist zwar wärmer, aber es könnte trotzdem vereiste Stellen geben.
»Hast du gehört?«, rief Rodriguez.