»Ich weiß noch, dass du dich in deiner Unterkunft versteckt hast, während wir anderen gefeiert haben«, antwortete Vijay.
»Ich erinnere mich auch an andere Nächte«, sagte Jamie.
Er saß an ihrem winzigen Schreibtisch, das Bestandsverzeichnis auf dem Computerbildschirm vor sich.
Sie wandte sich von dem offenen Schränkchen ab und sah ihn an. »Ich auch«, sagte sie mit leiser Stimme.
»Sie waren schön.«
Vijay nickte, dann wandte sie sich wieder ihrer Arbeit zu.
Jamie merkte, dass er sich nicht auf das Bestandsverzeichnis konzentrieren konnte. Er musste ständig an Trumball und die Navajo Nation denken und daran, dass diese Expedition so ein Desaster gewesen war, obwohl sie das marsianische Bauwerk gefunden hatten und es überall auf dem Mars ähnliche Bauwerke geben musste, ja sogar Überreste von Städten, unmöglich, dass auf einer ganzen ehemals von intelligenten Wesen bevölkerten Welt nur dieses eine Gebäude übrig geblieben sein sollte, er musste daran denken, wie sehr er Vijay begehrte, die so nah bei ihm stand, dass er die Hände nach ihr ausstrecken und sie in die Arme nehmen konnte, die aber dennoch Meilen, ja, Lichtjahre entfernt war, weil er sie aus seinem Leben vertrieben und kein Recht, keine Hoffnung, nicht einmal den Hauch einer Chance hatte, sie wieder zurückzugewinnen.
»Ich fliege nicht mit«, hörte er sich sagen. Seine Stimme klang so verdammt beherrscht, sie verriet keine Spur von Gefühl.
Vijay schloss das Schränkchen. Als sie sich umdrehte, waren ihre leuchtenden Mitternachtsaugen traurig. »Ich weiß.«
Das gab ihm einen Ruck. »Woher? Ich wusste es ja selbst bis eben noch nicht.«
Sie lächelte zerknirscht. »Denk daran, ich bin hier die Psychologin. Und ich kenne dich. Als Dex dir erzählt hatte, dass der Anspruch der Navajos verfallen würde, wenn wir alle weggingen, wusste ich, dass du hier bleiben würdest.«
»Dann hast du es früher gewusst als ich.«
»Nein«, sagte Vijay kopfschüttelnd. »Du hast es da auch schon gewusst, aber du musstest erst all die logischen Schritte vollziehen. Du musstest es überdenken und dich selbst überzeugen, dass du hier vier Monate oder länger ganz auf dich allein gestellt überleben könntest.«
Er nickte widerstrebend. »Ich schätze, du hast Recht.«
»Dann bist du also zu dem Schluss gekommen, dass du's schaffen kannst?«
»Ich glaube schon. Ich wüsste nicht, warum nicht.«
»Ganz allein?«
Nicht, wenn du bei mir bleibst, hätte er am liebsten gesagt, aber er wusste, dass er das nicht von ihr verlangen konnte.
Es war seine Sache, mehr als vier Monate lang den Hals auf dem Mars zu riskieren; er konnte sie nicht bitten, dieses Risiko mit ihm zu teilen. Es bedeutete zu viel, es gab zu viele Komplikationen.
Daher nickte er nur knapp und sagte: »Ganz allein, ja.«
»Nur du und der Mars, hm?«
Er zuckte die Achseln. »Es dürfte kein gar so großes Problem sein. Der Garten hier ist in Ordnung. Die ganzen Geräte funktionieren. Ich werde nicht verhungern, und mir wird auch nicht die Luft ausgehen.«
»Du willst zu dem Bauwerk fahren und noch ein bisschen rumstöbern, stimmt's?«
»Nein«, sagte Jamie fest. »Ich bleibe hier und hole einen Teil der geologischen Arbeiten nach, die seit Monaten liegen geblieben sind.« Dann setzte er hinzu: »Und ich werde versuchen, ein paar Solarzellen aus hiesigen Rohstoffen herzustellen. Es wäre eine große Hilfe, wenn wir genug Strom aus Sonnenlicht erzeugen könnten, um die ganze Kuppel damit zu betreiben.«
»Allein«, wiederholte sie.
Er zögerte nur einen winzigen Sekundenbruchteil, dann sagte er: »Allein.«
Vijays Gesicht war eine ausdruckslose Maske, als sie die Hand zu Jamie ausstreckte. »Na, dann komm. Du solltest es den anderen mitteilen.«
Die anderen versammelten sich in der Messe zu ihrem letzten Abendessen auf dem Mars – alle außer Trudy, die noch ans Bett gefesselt war. Die Verbrennungen in ihrem Gesicht würden kosmetische Operationen erfordern, und obwohl Rodriguez ihr immer wieder versicherte, dass alles gut werden würde, war sie in tiefe Depressionen versunken.
Rodriguez gab sich alle Mühe, sie aufzuheitern; er zog jedes Mal eine große Show ab, wenn er einen Verband loswerden konnte. Stacy, Jamie und sogar Mitsuo hatten stundenlang bei Trudy gesessen und ihr versichert, dass ihr seelischer Zusammenbruch nicht an die Öffentlichkeit gelangen werde, dass es weder Anklagen noch Vorwürfe geben werde. Diese Versicherungen schienen ihre Depressionen aber nur zu verstärken.
Vijay stellte ein Essenstablett für Trudy zusammen, während die anderen herumwuselten und ihre Auswahl trafen, ohne sich um die von den Ernäherungswissenschaftlern ausgearbeiteten Speisepläne zu kümmern.
»Was werde ich froh sein, wenn ich wieder ein echtes Steak zu sehen bekomme«, sagte Fuchida ganz ernst.
»Mit echtem Bier«, witzelte Rodriguez.
Wortlos machte sich Vijay mit dem Tablett auf den Weg zu Trudys Unterkunft. Hinter sich hörte sie Jamie verkünden: »Ich fliege nicht mit euch. Ich bleibe hier.«
Sie schob Trudys Tür auf, trat ein und knallte sie wieder zu.
Trudy saß aufrecht da; ihr Rücken war so weit verheilt, dass sie ihn an ein wassergefülltes Plastikkissen lehnen konnte. Als Vijay das Ding aus dem medizinischen Vorrat geholt hatte, war ihr durch den Kopf gegangen, dass sie sich nach demselben Prinzip Wasserbetten hätten machen können. Toller Zeitpunkt für solche Überlegungen, hatte sie sich über sich selbst geärgert.
»Wie geht's dir?«, fragte Vijay munter.
»Fliegen wir morgen ab?«, fragte Trudy. Sie hatte keine Verbände mehr im Gesicht; ihre Haut war wund und rosa.
Wenn sie auf der Erde eintrafen, würde sie narbig und spröde sein. Augenbrauen und Wimpern waren verschwunden. Sie hat Glück, dass sie noch sehen kann, dachte Vijay und fragte sich dann, was für ein Glück es war, in den Spiegel schauen zu können, wenn man ein so schrecklich verbranntes Gesicht hatte.
»Ja.« Vijay sorgte dafür, dass ihre Stimme weiterhin unbeschwert und fröhlich klang. »Morgen.«
Trudy schaute auf das Tablett hinab, das Vijay ihr auf den Schoß gestellt hatte. Endlich sagte sie leise: »Ich hab ein furchtbares Schlamassel angerichtet, nicht wahr?«
Vijay antwortete sanft: »Das kann man wohl sagen.«
»Ich hätte Tommy töten können. Ich bin gar nicht auf die Idee gekommen, dass ich ihn in Gefahr bringen würde.«
Vijay hätte am liebsten gesagt, dass Trudy sie alle in Gefahr gebracht hatte, aber sie hielt ihre Zunge im Zaum.
Trudy Hall würde ein wunderbares Thema für einen psychologischen Forschungsbericht abgeben, dachte sie. Ich werde auf dem Rückflug fünf Monate Zeit haben, sie zu studieren, ihre Motive zu ergründen …
»Ich liebe ihn«, sagte Trudy mit Tränen in den Augen.
»Ich wollte ihn zur Erde zurückbringen, wo er in Sicherheit sein würde, wo wir alle in Sicherheit sein würden.«
»Ich verstehe.«
Trudy blickte wütend zu ihr hoch. »Wirklich? Wie kannst du? Woher willst du wissen, wie es ist, einen Mann so zu lieben, dass man bereit wäre, für ihn zu sterben?«
Vijay war so verblüfft, dass ihr keine Antwort einfiel.
»Oh, es tut mir Leid«, platzte Trudy heraus. »Es tut mir so schrecklich Leid. Ich habe alles dermaßen vermasselt. Tommy wird mich nicht mal ansehen wollen, wenn wir nach Hause kommen. Ich liebe ihn so, und er wird mich nicht mal ansehen wollen.«
Auf einmal war Vijay zum Heulen zumute.
»Du kannst nicht allein hier bleiben«, sagte Deschurowa klipp und klar, als Jamie den fünfen, die am Tisch in der Messe versammelt waren, seinen Entschluss mitteilte.
»Klar kann ich das.« Jamie versuchte, es simpel und ganz banal klingen zu lassen.
»Wird nich leicht sein«, meinte Craig, »selbst wenn du vier Monate lang hier drin hockst und fernsiehst.«