Sie drifteten auseinander, obwohl sie zusammen reisten.
Und Jamie hatte von Anfang an gewusst, dass Joannas Welt sich in Wirklichkeit um ihren Vater drehte. Alberto Brumado, der netteste, freundlichste Mann der Welt, war immer noch der einzige Mann, den seine Tochter verehrte.
Sie war trotz ihrer heimlichen Ängste zum Mars geflogen, weil er schon zu alt dafür war. Sie hatte trotz ihrer heimlichen Zweifel geheiratet, weil er sie vor seinem Tod unter der Haube sehen wollte.
Er starb viel zu früh, dahingerafft während eines freiwilligen Einsatzes bei einer Ebola-Epidemie, die Sao Paulo dezimierte, trotz einer multinationalen Eingreiftruppe ärztlicher Helfer.
Nachdem ihr Vater tot war, ihr Starruhm jedoch durch die Tragödie noch heller erstrahlte, stellte Joana zum ersten Mal in ihrem Leben fest, dass sie von nun an ihren eigenen Interessen folgen wollte. Sie genoss das Scheinwerferlicht; Jamie nicht. Sie wollte ihre Freiheit; Jamie stimmte wie betäubt zu. Etwa zur gleichen Zeit entdeckte er, dass er bei der Aufstellung der Kandidaten für die Rückkehrexpedition übergangen wurde.
»Sie sind seit drei Jahren aus dem Geschäft«, sagte Pater DiNardo. Seine von Natur aus leise Stimme war noch sanfter als sonst. »In den letzten drei Jahren haben Sie an Konferenzen teilgenommen und Interviews gegeben, statt Forschung zu treiben.«
Jamie war zu dem jesuitischen Geologen gegangen, sobald ihm klar wurde, dass er nicht in die Planung für die zweite Expedition einbezogen war. Sie saßen in einem kleinen Büro im Vatikan; Jamie kauerte nervös in einem reich verzierten hölzernen Sessel aus der Hochrenaissance, DiNardo hockte hinter einem modernen Schreibtisch aus glänzendem Rosenholz.
Ohne seine klerikale Tracht hätte DiNardo wie ein Rausschmeißer in einer billigen Kaschemme ausgesehen: Er war gebaut wie ein Hydrant, klein und breit; sein Kopf war kahl geschoren, sein dunkles Kinn von Bartstoppeln übersät.
»Ich habe mich über die Ergebnisse der diversen Studien auf dem Laufenden gehalten«, protestierte Jamie.
DiNardo ließ ein mitfühlendes Lächeln sehen. »Oh ja, gewiss. Aber Sie haben keins dieser Resultate selbst erzielt. Sie haben andere die Arbeit tun lassen. Drei Jahre sind eine sehr lange Zeit.«
Der Priester war ursprünglich zum Chefgeologen der ersten Expedition auserkoren gewesen; eine plötzliche Gallenblasenkolik hatte ihn aus dem Verkehr gezogen.
Dank nahezu skandalöser politischer Machenschaften war Jamie an seine Stelle gerückt.
»Ich muss dorthin zurück«, sagte Jamie leise. »Ich muss.«
DiNardo schwieg.
Jamie schaute ihm in die ruhigen braunen Augen. »Niemand will nach der Felsenbehausung suchen. Das sollte höchste Priorität für uns haben.«
Der Pater seufzte geduldig. »Ich möchte Ihnen einen freundschaftlichen Rat geben«, sagte er mit einer Andeutung weicher italienischer Vokale am Ende seiner Worte. »Je öfter Sie die Felsenbehausung erwähnen, desto geringer wird die Wahrscheinlichkeit, dass man Sie ins Missionsteam aufnimmt.«
»Aber sie ist da! Ich habe sie gesehen!«
»Sie haben eine Felsenformation gesehen, die viele Kilometer von Ihnen entfernt war. Sie glauben, es könnte ein künstliches Gebilde gewesen sein. Niemand sonst glaubt, dass es etwas anderes als eine natürliche Formation ist.«
»Ich habe Videoaufnahmen gemacht«, beharrte Jamie.
»Und wir haben Ihr Video alle sehr aufmerksam studiert.
Ich selbst habe es mit dem Computer bearbeiten lassen, um die Bildqualität zu verbessern. Die Formation scheint eine Art Mauer in einer Nische in der Felswand zu sein. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass sie künstlich ist.«
»Deshalb müssen wir dorthin zurück, um herauszufinden, worum es sich wirklich handelt!«
DiNardo schüttelte traurig den Kopf. »Wollen Sie bei der zweiten Expedition dabei sein oder nicht?«
»Natürlich!«
»Dann hören Sie auf, von Ihrer Felsenbehausung zu reden. Sie machen sich damit nur lächerlich und erwecken den Anschein, als wären Sie ein Fanatiker. Halten Sie den Mund, und ich werde tun, was ich kann, um Ihnen einen Platz bei der Mission zu verschaffen.«
Jamie starrte den Priester lange an. Seine Gedanken rasten. Er kann nicht akzeptieren, dass es möglicherweise intelligentes Leben auf dem Mars gegeben hat. Niemand von ihnen will über diese Möglichkeit nachdenken. Die Flechte hat sie überrascht, aber die Vorstellung, dass es dort intelligentes Leben gegeben haben könnte, ist einfach zu viel für sie. Mit einer einfachen Lebensform auf dem Mars können sie fertig werden, aber vor den größeren Möglichkeiten verschließen sie lieber die Augen.
Warum?, fragte sich Jamie.
Die Antwort lautete: Sie haben Angst.
Li Chengdu war mittlerweile sehr zufrieden mit seinem Leben. Seine Ernennung zum Missionsleiter der ersten Marsexpedition war ein politischer Kompromiss gewesen.
In Singapur als Sohn chinesischer Eltern zur Welt gekommen, gehörte der anerkannte Atmosphärenphysiker keinem klar definierten politischen Lager an. Als Missionsleiter war er in der Umlaufbahn um den Mars geblieben und hatte mit einer Mischung aus Furcht und Neugier beobachtet, wie Jamie Waterman das Kommando über die Wissenschaftler und Astronauten des Bodenteams an sich gerissen und die Expedition nach seinen Vorstellungen umorganisiert hatte.
Waterman hatte außerordentliches Glück gehabt: Dank seiner Beharrlichkeit hatten sie lebende Organismen auf dem Grund des Grand Canyon gefunden.
Und Li Chengdu war nach ihrer Rückkehr vom Mars ans Institute of Advanced Study in Princeton berufen worden.
Eine angemessene Belohnung für seine Führungsrolle und seine Geduld, fand er – und für Watermans Glück.
Jetzt ging ein älterer, umsichtigerer Waterman neben ihm her durch den Wald außerhalb des Institutscampus mit seinen roten Ziegelbauten.
Der blasse, hagere Li, dem nur ein knapper Zentimeter an zwei Metern fehlte, ragte hoch über Jamie auf, und seine langen Beine fraßen den Waldweg in solchem Tempo, dass Jamie fast in Laufschritt verfallen musste.
»Ich bin derselben Meinung wie Pater DiNardo«, sagte Li, während sie durch den Wald gingen. Der Herbst ließ die Bäume in leuchtenden Farben erstrahlen; rote, goldene und kastanienbraune Blätter bedeckten den Boden wie ein bunter Teppich, der unter ihren Schritten knisterte und raschelte.
»Dass ich die Felsenbehausung nicht erwähnen sollte«, sagte Jamie.
»Ja. Wozu mehr Anlass zu Kontroversen geben als unbedingt nötig? Ihr Ziel ist es, bei der zweiten Expedition dabei zu sein, nicht über die Wahrscheinlichkeit intelligenter Marsianer zu diskutieren.«
»Falls es sie gegeben hat, sind sie bestimmt vor langer Zeit ausgestorben.« Jamie geriet ein wenig ins Schnaufen, während er sich abmühte, mit Li Schritt zu halten. Der Navajo in ihm dachte: Falls es sie gegeben hat, sind sie vielleicht in eine reichere, blauere Welt ausgewandert.
Li hob eine langfingrige Hand zu einer Geste, die ihm bedeutete, still zu sein. »Nur Geduld. Sie werden anderthalb Jahre auf dem Mars sein. Da haben Sie genug Zeit, den Ort erneut aufzusuchen – falls Sie ihn finden können.«
»Mit verbundenen Augen«, fauchte Jamie.
Der Chinese schaute auf den spannungsgeladenen jüngeren Mann mit dem bronzenen Gesicht hinunter und lächelte leise.
»Geduld ist eine Tugend«, sagte er.
»Werden Sie mich für die Expedition empfehlen?«, fragte Jamie.
»Sie haben keine Ahnung, was Sie da verlangen. Es wird nur acht Plätze auf dieser Expedition geben. Und nur zwei Geologen.«
»Ich weiß. Jeder würde einen Mord begehen, um dabei sein zu können«, sagte Jamie.
»Noch schlimmer. Sie waren schon auf dem Mars. Die jüngeren Wissenschaftler schimpfen, dass es nicht fair wäre, jemanden, der bereits dort war, noch einmal hinfliegen zu lassen.«