»Nicht fair? Das ist doch kein Spiel!«
»Ganz meiner Meinung. Aber wenn die jungen Leute das Auswahlkomitee dazu bringen, jeden abzulehnen, der schon auf dem Mars war, steigen die Chancen, dass einer von ihnen das Rennen macht.«
»Himmelherrgott«, knurrte Jamie. »Letztendlich geht es doch immer um Politik.«
»Immer«, bestätigte Li.
Sie gingen eine Weile schweigend durch die fallenden Blätter. Die Nachmittagssonne war warm, aber Jamie spürte eine Kälte in seinem Innern.
Endlich sagte Li: »Ich werde Ihre Aufnahme ins Expeditionsteam befürworten, aber nicht als Geologe.«
Jamie blinzelte ihn verdutzt an.
»Der Versuch, einen der Geologenplätze zu bekommen, würde zu viele Animositäten auslösen«, erklärte Li.
»Als was dann?«
»Als Missionsleiter natürlich. Dann wäre Ihre Erfahrung mit der ersten Expedition ein Pluspunkt und kein Manko.«
Alles, was Jamie darauf einfiel, war: »Oh.«
Li lächelte erneut, wie die Edamer Katze. »Schließlich waren Sie schon beim ersten Mal de facto Missionsleiter, nicht wahr?«
Jamie war kein Politiker, aber er war klug genug, den Mund zu halten. Es gab keine Möglichkeit, diese Fangfrage zu beantworten, ohne ins Fettnäpfchen zu treten.
Li war entzückt. Es wäre eine köstliche Ironie, wenn Waterman dieselbe Position bekäme, mit der er selbst sich bei der ersten Expedition herumgeschlagen hatte. Soll dieser rote Mann ruhig auch die Erfahrung machen, wie belastend die Verantwortung ist. Soll er ruhig spüren, was für ein Stress es ist, wenn jüngere Männer sein Urteilsvermögen und seine Geduld strapazieren, so wie er meine strapaziert hat.
Das ist deiner nicht würdig, tadelte sich Li stumm. So sollte sich ein erleuchteter Mensch nicht benehmen.
Dennoch nickte er innerlich, voller Genugtuung, dass das kosmische Rad eine Drehung vollenden würde.
Es gab noch jemanden, den Jamie aufsuchen musste, bevor ihm der Posten des Missionsleiters sicher war: Darryl C.
Trumball.
Jamie fröstelte unwillkürlich, als er in Trumballs geräumiges Büro in der obersten Etage des höchsten Hochhauses im Bostoner Finanzdistrikt geführt wurde. Es war kalt in dem Raum, beinahe schmerzhaft kalt. Und das lag nicht nur daran, dass die Klimaanlage auf eine eisige Temperatur eingestellt war. Die ganze Dekoration des Büros war winterlich: nackte Wände in blassem Grau, kein Gemälde, keine Fotografie, nicht einmal eine Blume als belebendes Element in all der Trostlosigkeit. Nur ausladende Fenster in einer Ecke mit Blick auf die City von Boston tief unten.
Trumball saß hager und hartäugig hinter einem flughafengroßen Schreibtisch aus handpoliertem Ebenholz. Sein kahlrasierter, im Licht eines winzigen, in die hohe Decke eingelassenen Scheinwerfers glänzender Schädel hatte fast etwas von einem Totenkopf. Dex war in Hemdsärmeln, hatte aber eine exakt gebundene kastanienbraune Krawatte um den Hals. Eine graue Weste war stramm über das Seidenhemd geknöpft. Er sah so hart und scharfkantig aus wie Feuerstein. Jamie fragte sich, ob Dex in dreißig Jahren wohl auch so aussehen würde.
»Setzen Sie sich, machen Sie sich's bequem«, sagte er und deutete auf einen der großen, burgunderroten Ledersessel vor dem Schreibtisch.
Während Jamie Platz nahm, erinnerte er sich an seinen Großvater, der immer minutenlang stumm dasaß, wenn er jemanden traf, den er noch nicht kannte; er taxierte sein Gegenüber, versuchte einzuschätzen, wes Geistes Kind es war. Aber Trumball war kein geduldiger Mensch. »Sie wollen also Missionsleiter werden«, sagte er.
Jamie nickte. In Wahrheit wollte er zum Mars zurück und würde jede Position, jeden Job akzeptieren, wenn er nur mit von der Partie sein konnte.
»Das ist eine ziemlich große Verantwortung«, meinte Trumball.
»Dr. Li hat mich für die Position empfohlen«, sagte Jamie langsam. »Er war der Missionsleiter der ersten Expedition.«
»Ich weiß, ich weiß.« Trumball kippte in seinem schweren Schreibtischsessel nach hinten und legte die Spitzen seiner langen, manikürten Finger aneinander.
Er wartete darauf, dass Jamie etwas sagte. Als dieser schwieg, fuhr er fort: »Das wird ein völlig anderer Trip werden, Dr. Waterman. Ein völlig anderer. Wir fliegen nicht nur um der edlen Wissenschaft willen hin, nein, Sir. Wir werden mit dem Mars Geld verdienen!«
»Das hoffe ich«, erwiderte Jamie.
Trumball verstummte für einen Moment. Seine harten grauen Augen musterten Jamie. »Sie haben doch nichts dagegen, dass jemand einen ehrlichen Dollar macht, oder?«
»Nicht, wenn es uns hilft, den Mars zu erforschen.«
»Das wird es, das wird es.«
»Dann bin ich dafür.«
»War nicht leicht, das Geld für diesen Trip zusammenzukriegen. Ich musste mich höllisch ins Zeug legen.«
Jamie merkte, dass der Mann auf ein Kompliment wartete.
»Sie haben hervorragende Arbeit geleistet«, sagte er.
Trumball trommelte einen Moment lang mit den Fingern auf die Schreibtischplatte. »Mein Sohn wird einer der Wissenschaftler sein, wissen Sie.«
»Ja, ich habe ihn kennen gelernt. Er ist Geophysiker.«
»Ganz recht. Aber er hat auch eine Nase fürs Geschäft.
Haben Sie eine Nase fürs Geschäft, Dr. Waterman?«
Die Frage verblüffte Jamie. »Ich weiß es nicht«, antwortete er ehrlich.
Trumball schaute verstimmt, beinahe verärgert drein.
Aber er sagte: »Na, egal. Dex wird sich schon um die geschäftliche Seite der Sache kümmern, machen Sie sich da mal keine Sorgen.«
Jamie dachte, dass der Mann eigentlich ein Selbstgespräch führte.
»Tja, Sie haben ja wohl die besten Qualifikationen für den Job«, meinte Trumball unwirsch.
»Ich werde gut auf Ihren Sohn aufpassen«, sagte Jamie.
Aus Trumballs Miene sprach echte Überraschung. »Gut auf ihn …! Ha! Teufel noch mal, Dex wird schon auf sich selbst aufpassen. Wehe, wenn nicht! Sorgen Sie nur dafür, dass alles gut geht. Das ist Ihr Job.«
Jamie dachte: Niemand kann garantieren, dass alles gut gehen wird. Nicht, wenn wir hundert Millionen Kilometer weit weg sind. Aber er sagte nichts. Er erhob sich aus seinem Sessel, als Trumball aufstand, und schüttelte ihm über den massiven Schreibtisch hinweg die kalte, trockene Hand.
Und verließ Boston mit seiner Ernennung zum Missionsleiter in der Tasche.
GEWÄCHSHAUS: SOL 6
»In erster Linie kommt es natürlich darauf an, jede Kontamination zu vermeiden«, sagte Trudy Hall.
»Ja«, pflichtete ihr Mitsuo Fuchida bei, »wir wollen ja nicht versehentlich irdische Mikroben auf dem Mars einführen.«
Jamie nickte. Er ging mit den beiden Biologen zwischen langen Kästen mit weitgehend blattlosen Pflanzen entlang.
Der Gewächshausgarten war endlich eingerichtet worden, in seiner eigenen Kuppel, die durch eine Luftschleuse mit ihrem Habitat verbunden war. Die beiden Kuppeln waren genau gleich groß, obwohl erst ein kleiner Teil der Bodenfläche des Gartens genutzt wurde. Er ist auf Zuwachs angelegt, sagte sich Jamie. Für diejenigen, die nach uns kommen.
Die normale, erdähnliche Atmosphäre im Garten unterschied sich nicht von jener in der Hauptkuppel, aber der Druck war geringfügig höher, damit keine Luft von draußen in den Garten eindrang.
»Außerdem muss man auch an die Rückkontamination denken«, sagte Hall und zog die Augenbrauen ein wenig zusammen. »Wir dürfen nicht zulassen, dass marsianische Organismen uns infizieren.«
»Oder unsere künftigen Nahrungsmittel«, setzte Fuchida hinzu.
Der Gewächshausgarten diente einem doppelten Zweck.
Die langen Reihen hydroponischer Pflanzen sollten die Nahrungsmittel der Expedition liefern: Sojabohnen, Kartoffeln, Blattgemüse, grüne Bohnen, Zwiebeln, Erbsen, Auberginen, Melonen und Erdbeeren. Dazu wurden sie mit nährstoffreichem Brauchwasser versorgt, das die Pflanzen selbst mit Hilfe eigens kultivierter Filterbakterien aufbereiteten.