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»Und wie wollt ihr das verhindern, Dex? Wo ziehen wir die Grenze, wenn sie erst mal herkommen dürfen? Geld regiert die Welt, ist es nicht so? Wer die Musik bezahlt, bestimmt auch, was gespielt wird, oder nicht?«

Dex marschierte durch den leeren Gang, bis er so dicht vor Jamie stand, dass sich ihre Nasen beinahe berührten.

»Herrgott noch mal, glaubst du, du bist der einzige Wissenschaftler im ganzen Sonnensystem? Ich will auch gute wissenschaftliche Arbeit machen, weißt du.«

»Wenn deine Touristen es dir erlauben.«

»Verdammt!« Dex schlug mit der Faust gegen die eingeklappte Liege über der seinen. »Dieser verfluchte selbstgerechte Mist! Das steht mir bis hier!« Er zeigte mit seiner anderen Hand auf seinen Adamsapfel.

Jamie spürte, wie ihm selbst die Hitze ins Gesicht stieg.

»Und dann werdet ihr große Touristenanlagen bauen wollen. Hotels. Parks, in denen sie in Hemdsärmels rumlaufen können. Ihr werdet diesen Planeten ruinieren, Dex. Eine ganze Welt wird zerstört werden, und die einheimischen Lebensformen mit ihr.«

»Das liegt noch hundert Jahre oder mehr in der Zukunft.«

»Das geschieht jetzt, Dex. Was wir jetzt tun, gestaltet die Zukunft. Mit jedem Schritt erschaffen wir unseren Weg ins Morgen. Was du vorhast, wird diese Welt ebenso sicher zerstören, wie die Europäer die Welt der amerikanischen Ureinwohner zerstört haben.«

»Glaubst du, ich will, dass es so läuft?«

»Du hast deinen Vater dazu gebracht, diese Richtung einzuschlagen, oder nicht?«

»Anders wären wir nicht hierher gekommen, Jamie! Zum Teufel, die Politiker wollten keine weitere Expedition finanzieren. Was glaubst du, warum es sechs Jahre gedauert hat, bis diese zweite Expedition auf dem Mars landen konnte?«

Jamie funkelte ihn an.

»Ich bin ebenfalls Wissenschaftler«, sagte Dex. »Ich habe meinen Vater beschwatzt, das Geld für uns zu beschaffen, weil ich zum Mars wollte! Glaubst du, du bist der Einzige?«

Jamie schüttelte den Kopf. »Aber der Preis, Dex. Der Preis.

Es wäre besser gewesen, wenn wir den Mars weitere hundert Jahre in Ruhe gelassen und abgewartet hätten, bis wir nur um der Wissenschaft willen herkommen können.«

»In einer perfekten Welt vielleicht«, erwiderte Dex mit leiserer Stimme. »Aber dann wären wir beide nicht hier, stimmt's?«

»Nein, wohl nicht.«

»Tja, ich will auf dem Mars sein. Jetzt. Ich. Ganz egal, was es kostet. Und du empfindest genauso, sonst wärst du nicht hier.«

Jamie sah ihm ins Gesicht. Das nassforsche Grinsen war verschwunden, die blaugrünen Augen waren tief, und sie wichen seinem Blick nicht aus.

»Vielleicht hast du Recht«, gab Jamie zu und ging wieder nach hinten zur Kombüse. »Aber ich komme mir wie eine Judasziege vor.«

»Oder wie Kit Carson vielleicht?«

Jamie fuhr herum und sah, dass Dex wieder grinste. Er weiß Bescheid über den Langen Marsch, damals, nachdem Carson und die Army das Volk von seinem Land vertrieben hatten.

»Genau«, sagte er gepresst. »Kit Carson. Das bin ich.«

NACHMITTAG: SOL 101

Jamie baumelte sechshundert Meter unter dem Rand der Klippe. Er schwang im Klettergeschirr hin und her, und die rötliche Felswand mit ihrer Schichtenstruktur war nur eine Armeslänge von ihm entfernt. Er berührte sie mit einem gestiefelten Fuß, dann stieß er sich ab. Er kippte Schwindel erregend vor und zurück wie ein Kind auf einer Schaukel.

»Bin fast da«, grunzte er. Er merkte, dass er keuchte und schwitzte, obwohl die motorisierte Winde den größten Teil der Arbeit erledigte.

»Immer mit der Ruhe.« Dex' Stimme klang angespannt und rau in seinen Helmlautsprechern. Die beiden Männer hatten nach ihrem Streit am Vorabend praktisch nur noch das für die Arbeit Nötigste miteinander gesprochen.

Jamie wurde bewusst, dass er sein Leben Dex anvertraute, der oben an der Winde mit dem Seil stand, an dem er hing.

Er hätte fast in sich hineingelacht. Unser Streit ist rein philosophisch. Aber dann dachte er an Vijay und erkannte, dass der Streit nach ihrer Rückkehr zur Kuppel ziemlich schnell handgreiflich werden konnte.

Behutsam drückte er auf die Windensteuerung. Die Felswand glitt an ihm vorbei, aber zu schnell; sie verschwamm beinahe vor seinen Augen. Er hob den behandschuhten Finger vom Kontrollknopf, und das Geschirr stoppte ruckartig, sodass er noch heftiger schaukelte als zuvor. Er knallte mit der Schulter gegen den Felsen und grunzte, als ihm der Aufschlag die Luft aus den Lungen trieb, dann streckte er wieder die Beine aus, um den nächsten Stoß abzufangen.

»Alles in Ordnung?«

»Ja. Alles okay«, antwortete Jamie.

»Von deinen Bildern werde ich seekrank«, beschwerte sich Dex.

Die an Jamies Helm befestigten VR-Kameras zeichneten alles auf, nicht so sehr zu Showzwecken, sondern damit man den Abstieg optisch verfolgen konnte. Dex hatte oben am Rand des Canyons einen tragbaren Monitor neben der Winde aufgestellt.

Widerstrebend blickte Jamie nach unten. Die Spalte in der Felswand befand sich noch immer mehrere hundert Meter unter ihm. Und der Grund des Canyons schien noch Tausende von Kilometern tiefer zu liegen und rhythmisch zu schwanken, so tief unten, dass er wie ein blutroter Teppich aussah, der nur darauf wartete, dass er ihm entgegen stürzte.

Na, wie sieht das aus, du Klugscheißer, fragte er Dex stumm.

Dann hob sich sein Magen. Jamie klammerte sich mit beiden Händen an dem dünnen Buckyball-Seil fest. Er schloss die Augen und sagte sich, dass das Seil über eine Tonne Gewicht tragen konnte, dass er selbst auf dem Mars nur ein Drittel seines irdischen Gewichts wog, dass das Geschirr ihn sicher hielt und noch nie gerissen war.

Trotzdem war es noch ein langer Weg bis nach unten. Ein langer Weg. Er lehnte sich so weit zurück, wie er es wagte, schaute durch die Sichtscheibe seines Helms nach oben und stellte fest, dass es auch ein langer Weg zum Rand des Canyons war.

Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und sprach in sein Helmmikrofon: »Okay, noch einmal, das müsste reichen.«

»Sei vorsichtig«, mahnte Dex.

»Klar«, sagte Jamie und fügte wortlos hinzu: Toller Rat.

Als ob es ihm nicht scheißegal wäre.

Er drückte so behutsam auf den Bedienungsknopf, wie er konnte, berührte ihn kaum, und die Felswand glitt langsamer vorbei. Vielleicht hab ich den Trick allmählich raus, sagte sich Jamie. Die Fahrt in die Tiefe ging noch gleichmä

ßiger vonstatten, als er den Finger völlig regungslos auf dem Knopf hielt und zusah, wie die Felswand vor seinen Augen nach oben rollte, Schicht um Schicht, Rot und Braun, Rosa und gebleichtes Hellbraun, ein Streifen gelbliches Weiß, ein Fleck aus glänzendem Silber – offenbar Sedimentablagerungen aus einer Zeit vor Milliarden von Jahren, als der Mars noch jung gewesen war und ein Ozean die heutige öde, wasserlose Wüste bedeckt hatte.

Und dann hatte sich das Land geteilt, war auf einer Länge von Tausenden von Kilometern aufgerissen, eine schartige Wunde, die eine acht Kilometer tiefe Narbe hinterlassen hatte; im Vergleich zu ihr sah der Grand Canyon von Arizona wie ein Grübchen aus. Was hatte diesen Bruch verursacht, was konnte einen Canyon aufreißen, der so breit war, dass man nicht mal die andere Seite sehen konnte, weil sie hinter dem Horizont lag?

Eine Plattentektonik wie auf der Erde konnte es nicht sein.

Der Kern des Mars war nicht lange genug so heiß gewesen, um einen solchen Grabenbruch zu erzeugen.

Eine Spalte kam vor ihm herauf, und Jamie stoppte die Winde. Aber es war nur ein Loch in der Canyonwand, eine lange, schmale Höhle, dunkel und leer. Keine Navajos, die sich darin vor Carson und seinen verräterischen Utah-Indianerscouts versteckten.

Er fuhr weiter nach unten. Kein Laut außer seinem Atem; die Winde war nun mehr als einen Kilometer über ihm, oben am Rand des Canyons bei Trumball.