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Das Gestein begann wieder zu verschwimmen. Zu schnell. Jamie lockerte den Druck seines verkrampften Fingers, und die Abwärtsfahrt verlangsamte sich.

Er schaute erneut nach unten und sah den dunklen Rand der Nische zwischen seinen baumelnden Stiefeln.

Gleich war er da. Noch ein paar Meter. Langsam, schmerzhaft langsam ließ er sich hinunter.

Es war eine riesige Einbuchtung in der Wand des Canyons, so groß wie die Höhle auf der Mesa Verde, vielleicht noch größer. Ein schwerer Felsüberhang, der sie vor dem Wetter schützte – nicht dass es in den letzten tausend Millennien viel Wetter auf dem Mars gegeben hätte.

»Ich bin bei der Nische«, meldete er in sein Helmmikro.

»Gehe auf manuelle Steuerung.«

Einen Moment lang kam keine Antwort, dann sagte Dex'

Stimme angespannt: »Ich kriege dein Kamerabild. Sieht gut aus.«

Jamie nickte. Wenn mir irgendwas zustößt, haben sie alles auf Video. Bilder für die Touristen.

Mitten in der Luft hängend, schaltete er die Windensteuerung aus und begann, sich per Hand langsam und vorsichtig hinunterzulassen. Dabei spähte er in die verschattete Nische in der Felswand.

Sie war da! Jamie sah eine glatte Mauer aus gräulichem Rosa, eine Art Sandstein, die sich vom Boden der riesigen Höhle erhob. Sie war so schnurgerade, dass es sich unmöglich um eine natürliche Formation handeln konnte. Sie war gebaut worden, errichtet von intelligenten Wesen.

Eine Ewigkeit hing er dort im Geschirr, schaukelte leicht hin und her und starrte nur die Mauer an, die sich in die schattigen Höhen der Spalte erhob, fast bis zur Felsendecke hinauf. Er fühlte, wie ihm das Herz gegen die Rippen schlug.

»Alles in Ordnung mit dir?«

Dex' Stimme weckte ihn aus seiner ehrfürchtigen Benommenheit.

»Siehst du das?«, rief Jamie. Seine Stimme war schrill vor Begeisterung.

»Ja, ich hab's auf dem Monitor. Sieht wirklich wie eine Mauer aus.«

»Es ist eine Mauer! Eine Mauer, die jemand gebaut hat!«

»Zieh keine voreiligen Schlüsse«, warnte Dex. Seine Stimme klang angespannt und heiser.

Langsam und bedächtig drehte Jamie den Kopf von einer Seite zur anderen, sodass die von seinen Augenbewegungen gesteuerte Helmkamera die Wand in ihrer gesamten Länge aufzeichnen konnte.

»Fast hundert Meter lang«, berichtete er. »Ungefähr zehn bis zwölf Meter hoch, schätze ich.«

»Sieht aus, als wäre der obere Rand abgebröckelt«, sagte Dex. »Ist aber schwer zu sagen, weil er im Schatten liegt.«

»Abgebröckelt, zerbrochen, ganz recht«, sagte Jamie.

»Muss ziemlich weiches Material sein. Sandstein oder so was in der Art.«

»Kannst du erkennen, wie dick sie ist?«

»Von hier aus nicht.«

Keine Reaktion von oben. Er weiß, was als nächstes kommt, sagte sich Jamie.

»Ich gehe rein«, sagte er.

Sofort erwiderte Dex: »Nein! Es ist schon zu spät, die Sonne geht in ungefähr einer Stunde unter. Die Mauer ist morgen auch noch da.«

»Ich schaff das schon«, sagte Jamie. »Ich hab auf der Erde genug Berge bestiegen, um das hinzukriegen.« Wortlos fügte er hinzu: Zur Hölle mit morgen. Ich gehe jetzt da rein.

Er hakte die mit einer Sprungfeder versehene Seilpistole von seinem Gerätegürtel, packte sie mit beiden behandschuhten Händen und zielte auf den Steinboden der Nische statt auf die Mauer selbst. Sandstein konnte nachgeben, sagte er sich, aber in Wirklichkeit wusste er, dass es ein Sakrileg wäre, die Mauer zu verunstalten.

Jamie drückte den Abzug durch, und das Seil schoss heraus. Die Pistole vibrierte in seiner Hand, während es sich abspulte. Der Motordorn grub sich mit einem dumpfen Laut in den Steinboden. Er hörte das Knirschen trotz der dünnen Luft. Er befestigte die Pistole wieder an seinem Gürtel, und das Seil straffte sich automatisch. Jamie zog prüfend daran; es schien zu halten.

»Verdammt, Jamie, wenn du jetzt nicht raufkommst, starte ich die Winde und ziehe dich hoch! Mach schon. Jetzt sofort!«

Jamie beachtete Dex' Aufforderung nicht. Vorsichtig zog er sich in die Spalte, eine Hand über die andere, bis seine Stiefel den Steinboden der Nische berührten. Die Mauer ragte rötlich-braun über ihm auf, massiv und still.

Jamie bückte sich und verankerte das Seil an seinem Geschirr mit zitternden Händen an dem Dorn im Boden. Er arbeitete mit unnatürlichen, bewusst langsamen Bewegungen. Innerlich bebte er; am liebsten wäre er losgerannt und hätte die Felsenbehausung erforscht, aber zunächst einmal musste er das lebenswichtige Seil sichern, das ihn wieder zum Rand der Canyons hinauftragen würde. Wie ein Betrunkener, der zeigen will, dass er nüchtern ist, band Jamie das Seil mit übertriebener Präzision fest.

»Dein Bild bricht zusammen«, kam Dex' Stimme unter dem Geknister atmosphärischer Störungen aus seinen Helmlautsprechern. »Der Felsen behindert die Übertragung.«

»Lässt sich nicht ändern«, sagte Jamie. Er begann, das Geschirr abzunehmen. Seine Hände zitterten so sehr, dass er drei Versuche brauchte, um es vollständig zu öffnen.

»Jamie, du musst jetzt raufkommen«, drängte Dex. Seine Stimme war schwach, fern, von atmosphärischen Störungen zerkratzt.

»Eine halbe Stunde«, sagte er geistesabwesend, als er schließlich aus dem Geschirr stieg und aufrecht und frei auf dem Boden der Spalte stand. Innerlich bebte er.

»Geh nicht … warte bis …« Dex' Stimme klang nervös und quengelig, »… Stacy … aus der Kuppel … kriegt einen Tobsuchtsanfall …«

Jamie ignorierte ihn. Er blickte zu der Mauer hinauf, die sich vor ihm erhob, der Mauer, die von Marsianern erbaut worden war. Hoch oben, knapp unter dem Felsendach, sah er rechteckige Öffnungen. Eine ganze Reihe, von einem Ende der Mauer zur anderen.

Fenster! Es sind Fenster! Was von draußen wie eine unterbrochene, zerbröckelte Dachlinie ausgesehen hatte, war in Wirklichkeit eine Reihe von Fenstern, die in den Canyon hinausblickten. Seine Knie waren wie Gummi, seine Eingeweide flatterten.

Sie waren hier, Großvater, sagte er in seinen Gedanken.

Sie waren wirklich hier. Jamies Blick verschwamm, und er merkte, dass ihm Tränen in den Augen standen.

In seinen Helmlautsprechern war es jetzt still, bis auf das leise Zischen atmosphärischer Störungen. Die Stimmen von oben konnten ihn hier nicht mehr erreichen. Jamie war allein mit den Geistern aus uralter Vergangenheit.

Das Bauwerk war alt. Obwohl Jamie von dem unförmigen Raumanzug umschlossen war, fühlte er die Jahrtausende, die Äonen, seit denen diese Mauern hier standen. Die massiven, stummen Steine strahlten Alter aus, unermessliche Zeiträume, zahllose Generationen der Hoffnung, des Glaubens und der Ausdauer. Das brünierte, sterbende Licht der fernen, untergehenden Sonne tauchte die Mauern in einen rötlichen Schein, sodass sie von innen heraus zu leuchten schienen.

Alt, unglaublich alt. Älter als die Felsenbehausungen der Alten. Älter als das Parthenon. Älter als die Pyramiden.

Und all diese Zeit hatte dieses Bauwerk hier in seiner Felsnische gestanden und gewartet, gewartet.

Auf mich. Auf uns. Darauf, von Menschen von der blauen Welt gefunden zu werden, sagte sich Jamie.

Blinzelnd schritt er die Steinmauer ab, zwang seine zitternden Beine, ihn zu tragen. Sein Geologenverstand fragte: Wie alt? Was für Materialien? Welcher Zweck? Aber in seinem roten Herzen wusste er: Intelligente Wesen hatten diese Gemeinschaft, dieses Dorf vor Jahrmillionen in dieser geschützten Felsbucht errichtet.

Vor Jahrmillionen.

Sie waren hier gewesen! Was war aus ihnen geworden?

Wohin waren sie verschwunden?

»Kriegst du diese Bilder?«, fragte er.

Keine Antwort.

Jamie zwang sich, zu dem Dorn und dem festgebundenen Seil zurückzugehen. Er sah, dass der Himmel dunkel zu werden begann. Das bisschen Sonnenlicht, das dem Tag noch blieb, spendete keine Wärme.