Ich bin der Fahrlässigkeit schuldig“, fuhr Lioren fort, wobei er sich wünschte, der Translator könnte die Verzweiflung in seiner Stimme wiedergeben, „und der Versuch des Verteidigers, das, was ich getan habe, herunterzuspielen und zu entschuldigen, ist geradezu lächerlich. Daß andere ebenfalls von dem Verhalten der Cromsaggi überrascht worden sind, einschließlich des Hospitalpersonals, das sich mit den Versuchen mit dem Medikament beschäftigt hat, ist keine Entschuldigung. Ich hätte mich nicht überraschen lassen dürfen, denn mir haben sämtliche Informationen zur Verfügung gestanden, und ich wäre im Besitz aller Teile des Puzzles gewesen, wenn ich die Zeichen richtig gedeutet hätte. Ich habe sie jedoch nicht einmal wahrgenommen, weil ich vor Stolz und Ehrgeiz blind gewesen bin; ein Teil von mir hat nämlich geglaubt, durch eine schnelle und vollständige Heilung würde sich mein Ruf als Arzt verbessern. Ich habe die Zeichen nicht wahrgenommen, weil ich mich fahrlässig und unachtsam verhalten habe und in geistiger Beziehung so verwöhnt war, daß ich die Gespräche der Patienten über die sexuellen Praktiken der Cromsaggi nicht hören wollte, die eine deutliche Vorwarnung vor dem gewesen wären, was schließlich passiert ist, und weil ich mich über Vorgesetzte hinweggesetzt habe, die zur Vorsicht geraten haben.“
„Ehrgeiz, Stolz und Ungehaltenheit sind keine Verbrechen“, warf O'Mara ein, wobei er rasch aufstand. „Und zweifellos ist es der Grad an beruflicher Fahrlässigkeit, den, falls man von einem solchen Delikt überhaupt sprechen kann, das Gericht bestrafen muß, und nicht die zugegebenermaßen schrecklichen und weitreichenden Folgen dessen, was bestenfalls eine geringfügige Übertretung ist.“
„Das Gericht läßt sich vom Verteidiger weder Vorschriften machen, noch wird es eine weitere derartige Unterbrechung des Schlußplädoyers der Anklage dulden“, sagte Flottenkommandant Dermod. „Setzen Sie sich, Major. Oberstabsarzt Lioren, Sie können fortfahren.“
Innerlich war Lioren derart von Schuldgefühlen, Angst und Verzweiflung erfüllt, daß ihm die wohldurchdachten Beweisgründe, die er sich zurechtgelegt hatte, vollkommen entfallen waren. Deshalb konnte er einfach nur darüber sprechen, wie er sich fühlte, und hoffen, daß das ausreichte.
„Ich habe nur noch wenig hinzuzufügen“, sagte er. „Ich bin eines furchtbaren Unrechts schuldig. Ich habe den Tod vieler tausend Lebewesen verursacht und verdiene es nicht zu leben. Ich bitte das Gericht um Gnade und um das Todesurteil.“
Abermals sprang O'Mara auf „Mir ist klar, daß die Anklage das letzte Wort hat. Aber bei allem Respekt, Sir, ich habe dem Gericht zu diesem Fall eine ausführliche Eingabe gemacht und bisher noch keine Gelegenheit gehabt, diese zur Diskussion zu stellen.“
„Ihre Eingabe ist entgegengenommen und angemessen berücksichtigt worden“, entgegnete der Flottenkommandant. „Eine Kopie wurde dem Angeklagten zur Verfügung gestellt, der es aber aus naheliegenden Gründen vorgezogen hat, sie nicht einzubringen. Darf ich den Verteidiger außerdem daran erinnern, daß noch immer ich es bin, der das letzte Wort haben wird? Setzen Sie sich bitte, Major O'Mara. Das Gericht wird sich jetzt beraten, bevor es zur Urteilsverkündung schreitet.“
Die drei Offiziere des Gerichts wurden von der neblig grauen Halbkugel eines schalldichten Felds eingehüllt, und es schien, als seien auch alle anderen Anwesenden in dieselbe Schweigezone eingeschlossen worden, als sie ihre Augen auf Lioren richteten. Obwohl sich Prilicla unter den ganz hinten sitzenden Zuhörern für seine empathischen Fähigkeiten in äußerster Entfernung befand, konnte Lioren den Cinrussker zittern sehen. Doch dies war bestimmt kein geeigneter Augenblick, in dem der Oberstabsarzt seine emotionale Ausstrahlung kontrollieren konnte. Als er sich an den Inhalt von O'Maras Eingabe erinnerte, spürte er, wie er innerlich von den furchtbarsten Extremen von Angst und Verzweiflung überwältigt wurde, und zum erstenmal in seinem Leben packte ihn eine solch gewaltige Wut, daß er am liebsten ein anderes intelligentes Lebewesen umgebracht hätte.
O'Mara erkannte, daß der Oberstabsarzt mit einem der Augen in seine Richtung blickte, und bewegte leicht den Kopf zur Seite. Wie Lioren wußte, war O'Mara kein Empath, aber als hochqualifizierter Psychologe mußte er auch so wissen, was in Lioren vorging.
Plötzlich löste sich das schalldichte Feld von oben nach unten auf, und der Gerichtspräsident beugte sich in seinem Stuhl vor.
„Vor der Urteilsverkündung wünscht das Gericht von dem Verteidiger Aufklärung und Bestätigung darüber, wie sich der Angeklagte aller Voraussicht nach verhalten wird, wenn er nicht mit dem Tode, sondern mit Freiheitsentzug bestraft werden würde“, sagte der Flottenkommandant und blickte O'Mara dabei fragend an. „Ist es angesichts des momentanen Geisteszustands von Oberstabsarzt Lioren nicht wahrscheinlich, daß beide Urteile rasch zum Tod des Angeklagten führen könnten?“
Erneut erhob sich O'Mara. „Da ich den Angeklagten während seiner Ausbildung am Orbit Hospital beobachtet und auch sein Verhalten nach dem Vorfall auf Cromsag untersucht habe, würde das nach meiner Ansicht als Fachmann nicht der Fall sein“, antwortete er, wobei er weniger den Flottenkommandanten, sondern vielmehr Lioren ansah. „Der Oberstabsarzt ist ein von ethischen und moralisch einwandfreien Grundsätzen geleitetes Wesen und empfände es als unehrenhaft, sich durch Selbstmord einer Strafe zu entziehen, die er für sein Verbrechen als gerecht ansehen würde, auch wenn Freiheitsentzug hinsichtlich der anhaltenden psychischen Anspannung des Angeklagten die härteste Strafe wäre, die verhängt werden könnte. Allerdings ziehe ich, wie sich das Gericht aus meiner Eingabe erinnern wird, der Bezeichnung ̃̄„Freiheitsentzug“ den Begriff ̃̄„psychische Heilbehandlung“ vor. Ich wiederhole nochmals, der Angeklagte würde sich nicht das Leben nehmen, wäre jedoch, wie Sie sich bestimmt schon gedacht haben werden, äußerst dankbar, wenn ihm das Gericht diese Arbeit abnähme.“
„Danke, Major“, sagte der Flottenkommandant. Dann wandte er sich Lioren zu und fuhr fort: „Oberstabsarzt Lioren, dieses Militärgericht bestätigt die früheren Urteilssprüche der medizinischen und der Zivilgerichte auf Tarla, Ihrem Heimatplaneten, und erklärt Sie eines verzeihlichen Irrtums bei der Beobachtung und Einschätzung der Lage für schuldig, der bedauerlicherweise zu einer schweren Katastrophe geführt hat. Obwohl es unter diesen Umständen gnädiger wäre, werden wir nicht von der seit dreißig Jahren bestehenden gerichtlichen Praxis in der Föderation abweichen oder, wenn sich die Therapie als erfolgreich erweisen sollte, ein möglicherweise nützliches Leben vergeuden, indem wir über Sie die Todesstrafe verhängen, die Sie sich so offenkundig wünschen. Statt dessen sprechen wir über Sie ein heilungsförderndes Urteil, nach dem Ihnen für zwei Jahre Ihr Rang im Monitorkorps und Ihr medizinischer Dienstgrad aberkannt werden und Sie dieses Hospital nicht verlassen dürfen, das aber als Gebäude so groß ist, daß Ihnen dieser Freiheitsentzug nicht lästig werden wird. Aus naheliegenden Gründen wird Ihnen zudem verboten, die Station zu betreten, auf der die Cromsaggi liegen. Sie werden unter Aufsicht und Befehl des Chefpsychologen O'Mara gestellt. Der Major rechnet damit, Sie in dieser Zeit psychologisch und emotional wieder ins Gleichgewicht zu bringen, was Sie dann in den Stand setzen wird, eine neue Laufbahn zu beginnen.