Offenbar befriedigte diese Antwort Braithwaite und Cha Thrat, und als der melfanische Arzt die Kantine verließ, setzten sie das Gespräch fort, dessen Pausen sich Lioren weiterhin standhaft zu füllen weigerte. Hätte er sich in diesem Moment dafür entschieden, zu sprechen und seine Ansichten darzulegen, hätte er gestehen müssen, daß er diese ständigen Mahnungen an seine Schuld als Teil der Strafe akzeptieren müsse, weil er schließlich dazu verurteilt worden sei, mit dem furchtbaren Verbrechen zu leben, das er begangen hatte.
Lioren glaubte nicht, daß seine beiden Kollegen erfreut gewesen wären, dies zu hören.
Wie er aus ihren Erzählungen entnehmen konnte, stand es den Mitarbeitern der psychologischen Abteilung frei, im Hospital überall hinzugehen und mit jedem Personalangehörigen — vom untersten Krankenpflegeschüler oder Wartungslehrling bis zu den fast gottgleichen Diagnostikern höchstpersönlich — zu sprechen oder ihn auszufragen, und das zu jeder Zeit, solange es sich nicht nachteilig auf die Ausübung der beruflichen Pflichten der betreffenden Person auswirkte. Folglich überraschte es nicht, daß sie sich mit ihrer Befugnis, sich in jedermanns ganz private Angelegenheiten einzumischen, beim Personal nicht gerade viele Freunde machten. Was hingegen überraschte, war, auf welche Weise diese Psychologen aus den verschiedensten Spezies angeworben wurden, und über welche Fähigkeiten, wenn man sie überhaupt als solche bezeichnen konnte, sie aus ihren früheren Berufen verfügten.
So war O'Mara als Bautechniker ans Orbit Hospital gekommen, kurz bevor es in Dienst gestellt worden war, und die Akte über die Arbeit, die er inmitten des ursprünglichen Personals und der ersten Patienten geleistet und die ihm die Beförderung zum Major und Chefpsychologen eingebracht hatte, durfte nicht mehr eingesehen werden. Allerdings gab es ein Gerücht, nach dem er einst ganz allein und ohne Hilfe von schweren Hebemaschinen oder Translatoren für einen hudlarischen Säugling, der zur Waise geworden war, die Amme gespielt hatte. Doch diese Geschichte hielt Lioren für zu unwahrscheinlich, als daß sie auf Tatsachen hätte beruhen können.
Nach dem, was ausgesprochen wurde oder auch unausgesprochen blieb, hatte Lieutenant Braithwaites Laufbahn in der Abteilung für die Verständigung mit fremden Spezies und Kulturkontakt des Korps begonnen, in der er anfangs Anlaß zu den größten Hoffnungen gegeben und noch größere Ungeduld gegenüber seinen Vorgesetzten an den Tag gelegt hatte. Seine Arbeit schien er damals voller Begeisterung, Hingabe, Selbstvertrauen und Intuition zu verrichten, und unabhängig davon, ob sich diese Intuition — wie in der Mehrzahl der Fälle — als zuverlässig oder als unsicher herausstellte, das Ergebnis erwies sich für die Verantwortlichen jedesmal als eine starke Belastung. Braithwaites Versuch, das Erstkontaktverfahren auf Keran dadurch zu beschleunigen, daß die philosophisch konservative Priesterschaft übergangen wurde, führte beispielsweise zu einem landesweiten religiösen Aufruhr, in dem viele Kerani verletzt wurden und umkamen. Daraufhin erhielt Braithwaite eine Disziplinarstrafe und durchlief eine Reihe von untergeordneten Stellungen in der Verwaltung, von denen sich sowohl für Braithwaite als auch für seine Vorgesetzten keine als geeignet erwies, bis er schließlich ans Orbit Hospital versetzt wurde. Für kurze Zeit arbeitete er in der Sektion ̃̄„Hauskommunikation“ innerhalb der Wartungsabteilung, wo er bei dem Versuch, das Übersetzungsprogramm für die vielen verschiedenen Sprachen, die im Hospital gesprochen wurden, zu überarbeiten und zu vereinfachen, den Hauptcomputer zum Absturz brachte und sämtlichen Mitarbeitern des Krankenhauses und den Patienten die Möglichkeit nahm, etwas anderes zu tun, als sich mehrere Stunden lang gegenseitig in unverständlichen Lauten anzubellen, anzukollern oder anzupiepsen. Colonel Skempton war von dem, was Braithwaite zu erreichen gehofft hatte, weniger beeindruckt gewesen als von dem Chaos, das von ihm angerichtet worden war, und hatte ihn schon auf den einsamsten und entferntesten Außenposten des Monitorkorps in der Föderation verbannen wollen, als letztendlich O'Mara zugunsten des Lieutenants eingeschritten war.
Ebenso war auch Cha Thrats Laufbahn von persönlichen und beruflichen Schwierigkeiten überschattet worden. Sie war die erste und bislang einzige Sommaradvanerin, die die Eignung zur Chirurgin für Krieger erworben und diese Tätigkeit ausgeübt hatte, womit sie in einem Beruf, der ansonsten ausschließlich männlichen Mitgliedern ihrer Spezies vorbehalten war, eine sehr bedeutende Stellung eingenommen hatte. Zwar war sich Lioren nicht sicher, was ein Chirurg für Krieger von Sommaradva sein oder tun sollte, aber Cha Thrat war es gelungen, ein Mitglied einer außerplanetarischen Spezies erfolgreich zu behandeln, nämlich einen terrestrischen Offizier vom Monitorkorps, der bei einem Flugzeugabsturz sehr schwer verletzt worden war und den Cha Thrat noch nie zuvor gesehen hatte. Da das Korps von ihrem chirurgischen Können und ihrer geistigen Beweglichkeit beeindruckt war, bot es ihr damals die Möglichkeit, sich am Orbit Hospital im galaktischen Sektor zwölf in der Chirurgie vieler verschiedener Spezies ausbilden zu lassen. Dieses Angebot nahm Cha Thrat an, weil sie wußte, daß die zu fremden Spezies gehörenden Ärzte am Hospital ihre Arbeit — anders als es auf Sommaradva üblich war — nach dem fachlichen Wert beurteilen würden, ohne sich darum zu kümmern, ob Cha Thrat männlich oder weiblich war.
Doch die leidenschaftliche Hingabe und die strengen medizinischen Regeln eines Chirurgen für Krieger von Sommaradva, die in vieler Hinsicht denen von Liorens tarlanischer Ärzteschaft ähnelten, hatten nicht denen des Orbit Hospitals entsprochen. Cha Thrat ging zwar nicht auf nähere Einzelheiten ihrer Vergehen ein, sondern deutete nur an, daß jedes Personalmitglied erpicht darauf wäre, Liorens Neugier in dieser Angelegenheit zu stillen, aber nach dem Eindruck, den er gewann, hatte sie als Auszubildende zu viel medizinische Initiative an den Tag gelegt und ihren nominellen Vorgesetzten zu oft bewiesen, daß sie sich im Irrtum befanden. Nach einem besonderen Zwischenfall, bei dem sie vorübergehend einen Arm verlor, wollte keine Station im Hospital sie mehr zur Ausbildung annehmen. Deshalb wurde Cha Thrat — wie Braithwaite — zur Wartungsabteilung versetzt und arbeitete dort, bis ein schwerwiegender Akt des Ungehorsams, der durch die damaligen medizinischen Umstände gerechtfertigt war, zu ihrer Entlassung führte. Und wieder wie bei Braithwaite war es letztendlich O'Mara gewesen, der Cha Thrat davon abgehalten hatte, das Hospital zu verlassen, indem er sie für die psychologische Abteilung angeworben hatte.
Im weiteren Verlauf des Gesprächs, das ihn sowohl informieren als auch aus der Reserve locken sollte, spürte Lioren eine wachsende Zuneigung zu diesen beiden Wesen. Wie er selbst waren auch sie mit zuviel Intelligenz, Individualität und Initiative gestraft und hatten schwer darunter gelitten.