Natürlich waren ihre Vergehen im Vergleich zu Liorens Verbrechen geringfügig, weil es sich bei den beiden eher um Außenseiter mit psychologischen Defekten als um Kriminelle handelte und sie für das Unrecht, das sie begangen hatten, nicht voll verantwortlich waren. Aber gestanden sie ihm diese Delikte in der Form einer scheinbar belanglosen Plauderei ein, damit er sie beide und auch die Situation in der psychologischen Abteilung wirklich besser verstand? Oder handelte es sich eher um den Versuch, lediglich die eigenen Schuldgefühle durch das Bemühen, ihm zu helfen, zu mindern? Da die beiden im Gegensatz zu Lioren ihre wahren Gefühle verbargen, indem sie nicht schwiegen, sondern fortwährend redeten, konnte er sich dessen nicht sicher sein. Es ging ihm sogar der beunruhigende Gedanke durch den Kopf, daß Braithwaite und Cha Thrat womöglich gar nicht unter Schuldgefühlen litten und durch ihre Bemühen, Lioren zu helfen, sowie durch ihre anderen Aufgaben in der Abteilung ihre früheren Vergehen vergaßen. Allerdings verwarf er diesen Gedanken sogleich als völlig absurd, da man ein einst begangenes Verbrechen ebensowenig vergessen konnte wie den eigenen Namen.
„Lioren, was ist denn?“ fragte Braithwaite plötzlich. „Sie essen nichts und unterhalten sich auch nicht mit uns. Möchten Sie lieber wieder ins Büro?“
„Nein, jetzt noch nicht“, antwortete Lioren. „Mir ist übrigens durchaus klar, daß es sich bei diesem Kantinenbesuch um einen psychologischen Test gehandelt hat und Sie genauestens auf meine Äußerungen und mein Verhalten geachtet haben. Außerdem haben Sie, was ganz bestimmt auch zum Test gehört hat, Fragen über sich selbst beantwortet, ohne daß ich sie stellen mußte, auch wenn einige davon so persönlich gewesen sind, daß ich es für höchst unhöflich gehalten hätte, sie an Sie zu richten. Doch jetzt werde ich Ihnen eine ganz direkte Frage stellen. Zu welchen Schlußfolgerungen sind Sie durch Ihre Beobachtungen gekommen?“
Braithwaite blieb stumm, deutete jedoch mit einer leichten Kopfbewegung an, daß Cha Thrat antworten sollte.
„Sie haben davon gehört und werden verstehen, daß ich meine eigentliche Tätigkeit als Chirurgin für Krieger nicht ausüben darf und bisher noch keine voll ausgebildete Zauberin bin“, sagte die Sommaradvanerin. „Deshalb mangelt es meinen Zaubersprüchen, wie es Ihre Äußerungen vorhin schon bewiesen haben, noch an Raffinesse, und sie sind darum ziemlich leicht zu durchschauen. Somit besteht die Gefahr, daß meine Beobachtungen und Schlußfolgerungen ebenfalls allzusehr vereinfacht und ungenau sind. Nach meinen Beobachtungen ist der Zauberspruch, der Sie aus der Abgeschiedenheit des Büros und Ihrer Unterkunft herausholen und in die Kantine bringen sollte, insofern erfolglos gewesen, als daß Sie auf alle, die an Sie herangetreten sind, ruhig und ohne offensichtliche emotionale Anspannung reagiert haben. Er ist erfolglos gewesen, weil er nicht Ihren Widerwillen bezwungen hat, Ihre persönlichen Ansichten darzulegen, was ein weiterer und noch wichtigerer Zweck des Tests gewesen ist. Daher lautet meine Schlußfolgerung, daß Sie ab jetzt immer ohne Begleitung in die Kantine gehen sollten, es sei denn, man schließt sich Ihnen nicht an, um Sie zu therapieren, sondern um Ihnen Gesellschaft zu leisten.“
Braithwaite nickte mit dem Kopf, eine Geste, mit der die Terrestrier wortlos zustimmten. „Wie sehen denn Ihre eigenen Schlußfolgerungen als Gegenstand dieses nur zum Teil erfolgreichen Tests aus, Lioren? Sprechen Sie Ihre Ansichten darüber wenigstens genauso freimütig wie ein Kelgianer aus, und schonen Sie dabei bitte nicht unsere Gefühle.“
Einen Augenblick lang schwieg Lioren. Dann entgegnete er: „Ich würde gerne wissen, wieso sich Cha Thrat in einer Zeit fortschrittlicher Medizin und Technologie für eine Zauberin hält, sei sie nun ausgebildet oder nicht. Außerdem bin ich über die persönlichen Auskünfte, die Sie mir über sich erteilt haben, erstaunt und beunruhigt zugleich. Auch auf die Gefahr hin, Sie beide schwer zu beleidigen, kann ich daraus nur schließen, daß Sie auch. Besteht das Personal der psychologischen Abteilung eigentlich nur aus aufsässigen Außenseitern und Wesen, die in der Vergangenheit emotional in Aufruhr geraten sind?“
Cha Thrat gab einen unübersetzbaren Laut von sich, und der Terrestrier bellte leise.
„Ohne Ausnahme“, antwortete Braithwaite lächelnd.
7. Kapitel
Weder in all den Jahren als Student auf Tarla noch während der gesamten Ausbildung für Fortgeschrittene am Orbit Hospital hatte Lioren derart verworrene und ungenaue Anweisungen erhalten.
Eigentlich hätte Major O'Mara, der als einer der scharfsinnigsten und analytischsten Köpfe im Hospital galt, keinesfalls imstande sein dürfen, solche Anweisungen zu erteilen. Nicht zum erstenmal fragte sich Lioren, ob der Chefpsychologe, so sehr dieser auch unter der großen Verantwortung leiden mochte, die geistige Gesundheit von nahezu zehntausend Mitgliedern des medizinischen und des Wartungspersonals aus über sechzig verschiedenen Spezies aufrechtzuerhalten, allmählich nicht selbst von einer der schleichenden nichtkörperlichen Krankheiten befallen worden sein könnte, die er eigentlich behandeln sollte. Oder lag es einfach daran, daß Lioren als neuestes und somit als das am wenigsten informierte Mitglied der Abteilung die Anweisungen des Chefpsychologen mißverstanden hatte?
„Darf ich die Anweisungen noch einmal laut wiederholen, um sie mir besser klarzumachen und die Möglichkeit von Mißverständnissen zu verringern?“ erkundigte sich Lioren vorsichtig.
„Wenn Sie das für notwendig halten, ja“, antwortete der Chefpsychologe. Aus seiner zunehmenden Erfahrung, den Klang der Stimme und den Ausdruck auf den schlaffen gelbrosa Gesichtern der Terrestrier zu deuten, wußte Lioren, daß O'Mara allmählich die Geduld verlor.
Ohne den in der Antwort mitschwingenden Unterton zu beachten, fuhr Lioren fort: „Ich soll also Chefarzt Seldal so lange und so oft beobachten, wie es dessen Dienstplan und meine anderweitigen Arbeiten zulassen, und zwar ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Dabei habe ich auf Anzeichen für unnormales oder atypisches Verhalten zu achten, obwohl Sie genau wissen, daß einem tarlanischen DRLH wie mir das normale und typische Verhalten eines Nallajimer der physiologischen Klassifikation MSVK genauso seltsam vorkommen würde. Das alles soll ich tun, ohne vorher einen Hinweis zu erhalten, worauf ich zu achten habe oder ob es zunächst einmal überhaupt etwas gibt, auf das ich achten müßte. Falls ich ein solches Verhalten feststellen kann, muß ich versuchen, heimlich den Grund dafür herauszufinden, und mein anschließender Bericht sollte Vorschläge für eine Heilbehandlung enthalten, nicht wahr?“
O'Mara sah ihn schweigend an.
„Aber was ist, wenn ich nichts Unnormales entdecken kann?“ fragte er noch, als feststand, daß der Major nicht sprechen würde.
„Auch negative Hinweise können wertvoll sein“, antwortete O'Mara geheimnisvoll.
„Ist es Ihre Absicht, daß ich mich an die Arbeit mache, ohne auch nur das Geringste von Seldal zu wissen, oder darf ich mir vorher seine psychologische Akte ansehen?“ hakte Lioren nach, wobei er in seiner Wut einen Moment lang die Achtung vergaß, die jemandem gebührte, der dem Namen nach ein Vorgesetzter war.
„Sie können die Akte nach Herzenslust durchsehen“, antwortete O'Mara. „Wenn Sie keine weiteren Fragen haben, Oberschwester Kursenneth wartet draußen bereits.“
„Ich habe noch eine Bemerkung und eine Frage“, sagte Lioren schnell. „Das Ganze scheint mir eine besonders ungenaue Methode zu sein, einen Auszubildenden über seinen ersten Fall zu informieren. Ich müßte doch zumindest einen Hinweis bekommen, was mit Seldal nicht stimmt. Ich meine, wodurch hat der Chefarzt zuerst Ihr Mißtrauen erregt?“
O'Mara atmete geräuschvoll aus. „Ich habe Ihnen den Fall Seldal übertragen und Ihnen nicht gesagt, was zu tun ist, weil ich ganz einfach selbst nicht weiß, was ich damit anfangen soll.“