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Lioren stieß einen überraschten Laut aus, der nicht übersetzt wurde. „Ist es möglich, daß sich der erfahrenste Psychologe für fremde Spezies im Hospital einem Problem gegenüber sieht, das er nicht lösen kann?“

„Eine andere Möglichkeit, die Sie vielleicht in Betracht ziehen sollten, ist die, daß dieses Problem gar nicht existiert“, antwortete O'Mara, wobei er sich im Schreibtischsessel zurücklehnte. „Oder daß es sich um einen so unbedeutenden und unwichtigen Fall handelt, daß kein ernsthafter Schaden entstehen kann, wenn er von einem Auszubildenden verpatzt werden sollte. Möglich ist auch, daß mich dringendere Probleme in Anspruch nehmen und dies der Grund ist, weshalb Sie diesen unbedeutenden und gar nicht dringlichen Fall bekommen haben.

Zum erstenmal dürfen Sie Einsicht in die psychologische Akte eines Chefarztes nehmen“, fuhr er fort, bevor Lioren etwas sagen konnte. „Es könnte auch sein, daß Sie als Auszubildender selbst herausfinden sollen, was mein Mißtrauen erregt hat, und Sie aufgrund der Erkenntnisse aus Ihrer anschließenden Untersuchung zu entscheiden haben, ob es berechtigt war oder nicht.“

Peinlich berührt ließ Lioren die vier mittleren Gliedmaßen kraftlos herabhängen, so daß die Fingerspitzen den Boden berührten, und signalisierte damit, daß er der gerechten Kritik seines Vorgesetzten nichts entgegenzusetzen hatte. O'Mara mußte die Bedeutung dieser Geste verstehen, zog es jedoch vor, sie nicht zu beachten, und fuhr fort: „Der wichtigste Teil der Arbeit in dieser Abteilung besteht darin, ständig nach unnormalem und atypischem Verhalten bei jedem einzelnen Personalmitglied — unabhängig von der Spezies oder den Umständen — Ausschau zu halten und zu guter Letzt ein Gespür dafür zu entwickeln, den Grund dieser Probleme herauszufinden, bevor sie dem Betreffenden selbst, anderen Mitarbeitern oder den Patienten ernsthaft schaden können. Beruhen Ihre Einwände darauf, daß Sie eine Abneigung gegen lange, ausführliche Gespräche haben und lieber den notgedrungen kurzen Small talk wie in der Kantine führen, weil sonst Ihre früheren Vergehen zur Sprache kommen könnten und Ihnen das emotional schwer zu schaffen machen würde?“

„Nein“, antwortete Lioren mit Entschiedenheit. „Jedes derartige Unbehagen wäre nichts im Vergleich zu der Strafe, die ich verdiene.“

O'Mara schüttelte den Kopf. „Das ist keine befriedigende Antwort,

Lioren, aber vorläufig werde ich sie erst einmal akzeptieren. Schicken Sie Kursenneth herein, wenn Sie rausgehen.“

In wellenförmigen Bewegungen begab sich die kelgianische Oberschwester rasch in O'Maras Büro, wobei sich ihr Fell ungeduldig kräuselte, während Lioren die Tür hinter sich schloß und sich mit solcher Wucht auf den Platz fallen ließ, an dem er arbeitete, daß das Sitzgestell vernehmlich protestierte. Der einzige weitere Anwesende im Vorzimmer war Braithwaite, der sich voll und ganz auf den vor ihm stehenden Monitor konzentrierte. Wütend murmelnd beugte sich Lioren über die Tastatur, um sein persönliches Paßwort und den Bevollmächtigungscode der Abteilung einzugeben, und bat den Computer um das vorhandene Material über Seldal, wobei er sich nicht für die akustische Übersetzung, sondern lieber für die in tarlanischer Schrift dargestellte Form entschied.

„Sprechen Sie mit mir oder mit sich selbst?“ fragte Braithwaite, der plötzlich von seiner Arbeit aufblickte und seine Zähne entblößte. „Entweder sprechen Sie ein bißchen lauter, so daß ich Sie verstehen kann, oder leiser, damit ich Sie nicht mehr höre.“

„Ich habe mit niemandem gesprochen“, antwortete Lioren. „Ich denke nur laut über O'Mara und die übertriebenen Erwartungen nach, die er in mich setzt. Irrtümlicherweise hatte ich angenommen, mit gedämpfter Stimme zu sprechen. Entschuldigen Sie, daß ich Sie von der Arbeit abgelenkt habe.“

Braithwaite lehnte sich im Stuhl zurück, blickte auf die engbedruckten Blätter, die sich auf Liorens Schreibtisch häuften, und sagte: „Aha, also hat er Ihnen den Fall Seldal übertragen. Aber dann gibt es doch gar keinen Grund, sich aufzuregen, denn niemand erwartet von Ihnen, daß Sie über Nacht zu einem Ergebnis gelangen, falls Sie in diesem Fall überhaupt weiterkommen können. Und sollten Sie das Herumstöbern in den nicht besonders dunklen Tiefen der Seele eines nallajimischen Chefarztes irgendwann satt haben, dann liegt der neueste Stapel Berichte über die Fortschritte der Auszubildenden von Cresk-Sar bereits auf Ihrem Tisch. Mir wäre es lieb, wenn Sie die entsprechenden Personalakten noch vor Ende der nächsten Schicht auf den neuesten Stand bringen könnten.“

„Selbstverständlich“, willigte Lioren ein. Daraufhin entblößte Braithwaite erneut die Zähne und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.

In Liorens erstem Jahr am Orbit Hospital war Cresk-Sar sein Ausbilder gewesen, und der Nidianer war noch immer jemand, den man unmöglich zufriedenstellen konnte. Als Lioren den für Cresk-Sar typisch pessimistischen Bericht über die offensichtlich mangelnden Fortschritte der gerade neu aufgenommenen Lernschwestern und Krankenpflegeschüler las, fragte sich Lioren kurz, ob er die todlangweiligen, aber wichtigen Unterlagen des Chefausbilders oder die interessantere, aber wahrscheinlich weniger ergiebige psychologische Akte Seldals vorrangig behandeln sollte. Pflichtbewußt, wie es sich für die meisten untergeordneten Mitarbeiter der Abteilung gehörte, entschied er sich für Cresk-Sars Bericht.

Wenige Augenblicke später, als er die Beurteilung der medizinischen Fähigkeiten und die Beförderungsmöglichkeiten einer kelgianischen Lernschwester las, deren Name ihm vertraut war, änderte er plötzlich seine Meinung und ließ sich die Seldal-Akte ausdrucken. Er fing an, sie so genau zu lesen, daß er kaum bemerkte, wie Kursenneth O'Maras Büro verließ und ein tralthanischer Assistenzarzt eintraf, der auf seinen sechs massiven Beinen schwerfällig ins Vorzimmer stampfte. Doch der Lärm hatte Braithwaite veranlaßt aufzusehen, und Lioren gab einen höflichen, nicht übersetzbaren Laut von sich, um die Aufmerksamkeit des Lieutenants auf sich zu lenken.

„Diese Akte ist zwar recht interessant, aber das einzige, was ich davon wirklich verstehe, sind die Daten über die Physiologie und die Umweltbedingungen der MSVKs“, sagte er zu Braithwaite. „Über das Verhalten der Nallajimer untereinander im allgemeinen und von Seldal im besonderen weiß ich nicht genug, um irgend etwas Unnormales zu entdecken. Es wäre besser, wenn ich Seldal eine Zeitlang direkt beobachten und mit ihm sprechen könnte, falls dies möglich ist, ohne seinen Verdacht zu erregen, damit ich ein klareres Bild von dem Wesen bekomme, das ich überprüfe.“

„Es ist Ihr Fall“, meinte Braithwaite.

„Gut, dann werde ich genau das tun“, sagte Lioren, indem er Cresk-Sars Unterlagen und die über Seldal vor dem Zugriff Unbefugter sicherte und sich anschickte, das Vorzimmer zu verlassen.

„Und ich bin übrigens auch der Meinung, daß jede Tätigkeit angenehmer ist, als sich mühsam durch Cresk-Sars scheußliche und langweilige Zwischenberichte kämpfen zu müssen…“, stellte der Lieutenant fest und kehrte an seine Arbeit zurück.

Ein kurzer Blick in den Dienstplan des höheren Personals verriet Lioren, daß Seldal im melfanischen OP auf der achtundsiebzigsten Ebene zu finden sein würde. Wenn er die Verkehrsdichte auf den Korridoren, die er zu durchqueren hatte, und eine weitere Verzögerung für das Anlegen eines Schutzanzugs einkalkulierte, bevor er die Abkürzung durch die Ebene der chloratmenden PVSJs von Illensa nahm, müßte er es schaffen, den Chefarzt anzutreffen, bevor dieser zum Mittagessen ging.

Bis jetzt hatte Lioren noch keine klare Vorstellung, was er sagen oder tun sollte, wenn er schließlich seinem ersten nichtchirurgischen Fall gegenüberstehen würde, und auf dem Weg zum melfanischen OP bot sich keine Gelegenheit, an etwas anderes zu denken, als peinliche Situationen oder Verletzungen zu vermeiden, die sich ergeben hätten, wenn er über andere Personalmitglieder gestolpert oder heftig mit ihnen zusammengestoßen wäre.