Theoretisch hatten diejenigen Vorrang, die den höheren medizinischen Dienstgrad besaßen, doch nicht zum erstenmal sah Lioren, wie ein Chefarzt, der zu einer der kleineren Lebensformen gehörte, ein hastiges Ausweichmanöver durchführte, als eine sechsbeinige Oberschwester der physiologischen Klassifikation FROB von Hudlar auf ihn zustürmte, die über sein achtfaches Körpergewicht verfügte und offenbar eine dringende Arbeit zu erledigen hatte. Auch wenn es in solchen Fällen nicht zu einem heftigen körperlichen Zusammenstoß, sondern nur zu einer kurzen verbalen Attacke kam, war es doch beruhigend zu sehen, daß der Überlebenstrieb dem Dienstgrad vorgezogen wurde.
Für Lioren gab es jedoch kein Problem. Seine Armbinde des Auszubildenden zeigte an, daß er überhaupt keinen Dienstgrad innehatte und jedem aus dem Weg gehen mußte.
Als er sich an der Kreuzung zweier Korridore blitzschnell zwischen zwei krabbenähnlichen ELNTs von Melf IV und einem chloratmenden PVSJ von Illensa hindurchzwängte, gaben ihm die drei zwitschernd und zischend ihr Mißfallen zu verstehen; dann sprang er beiseite, als ein tralthanischer Diagnostiker auf ihn zugestampft kam, der nicht nur in die eigenen Gedanken versunken war, sondern auch in diejenigen, die ihm von den Schulungsbändern in den Kopf übertragen worden waren, und rempelte dabei aus Versehen einen kleinen nidianischen Assistenzarzt mit rotem Fell an, der ihn daraufhin mißbilligend anbellte.
Obwohl die physiologischen Klassifikationen sehr unterschiedlich waren, gehörten die meisten Mitarbeiter des Hospitals wie Lioren selbst zu den warmblütigen Sauerstoffatmern. Ein weit größeres Risiko beim Gehen durch die Korridore stellten die Lebensformen dar, die in einem Schutzanzug eine für sie fremde Ebene durchquerten. Der Schutzpanzer, den in dieser Umgebung ein TLTU-Arzt brauchte, der überhitzten Dampf atmete und einen viel größeren Druck und eine beträchtlich höhere Schwerkraft als auf den Ebenen der Sauerstoffatmer benötigte, wirkte wie ein großer, scheppernder Lastwagen, dem man um jeden Preis aus dem Weg gehen mußte.
In der Zwischenschleuse zur PVSJ-Ebene legte Lioren einen leichten Schutzanzug an, bevor er sich in die neblige, gelbe Welt der Chloratmer begab. Hier waren die Korridore weniger überfüllt, und diesmal waren die stacheligen, membranartigen und ungeschützten Bewohner von Illensa in der Mehrheit, während die Tralthaner, Kelgianer und ein einzelner Tarlaner, nämlich er selbst, in Schutzkleidung steckten oder sich sogar in Spezialfahrzeugen fortbewegen mußten.
Durch den stark verminderten Fußgängerverkehr hatte Lioren die Möglichkeit, noch einmal über seine merkwürdig verschwommene Aufgabe sowie über die psychologische Abteilung und die Arbeit nachzudenken, zu der er verurteilt worden war.
Selbst wenn er beweisen könnte, daß O'Maras Verdacht unbegründet war, wäre es für ihn eine einzigartige Erfahrung, Seldal zu überprüfen. Unabhängig von der untergeordneten Rolle, die dem Fall wahrscheinlich zukam, wollte er ihn wirklich sehr ernst nehmen, und wenn seine Beobachtungen ergeben sollten, daß Seldal tatsächlich ein Problem hatte.
Kurz richtete Lioren die Augen nach oben, um seinem lichtjahreweit entfernten Gott von Tarla, an dessen Existenz er eigentlich längst nicht mehr glaubte, ein Gebet darzubringen, in dem er um Belehrung bat, welches Verhalten bei einem hochintelligenten, dreibeinigen, zwar vogelähnlichen, aber flugunfähigen Bewohner von Nallajim als unnormal angesehen werden mußte und welches nicht. Gerade noch rechtzeitig senkte er wieder den Blick, um sich gegen die Wand zu drücken, als aus einem Seitengang ein fahrbarer, tiefgekühlter Druckbehälter lautlos auf ihn zugerollt kam, in dem ein unter extremer Kälte lebender SNLU steckte. Verärgert über dieses vorübergehende Nachlassen der Aufmerksamkeit, setzte Lioren seinen Weg fort.
Bis jetzt bestand das einzige unnormale und gefährliche Verhalten, das er festgestellt hatte, in unvorsichtiger Fahrweise — und dieses rücksichtslose Benehmen schien im Hospital weit verbreitet zu sein.
8. Kapitel
Lioren durchquerte die chirurgische Station für Melfaner mit einem Tempo, daß man den Eindruck bekam, er wüßte genau, wohin er ging und was er vorhatte, sobald er dort angekommen war. Die diensthabende illensanische Oberschwester blickte von ihrem Tisch auf und bewegte sich unruhig im Schutzanzug hin und her, beachtete ihn aber nicht weiter, und die übrigen Schwestern und Krankenpfleger waren viel zu sehr damit beschäftigt, sich um die frisch operierten ELNT-Patienten zu kümmern, als daß sie überhaupt etwas von ihm bemerkt hätten. Doch als er zwischen der Doppelreihe gepolsterter Stützgestelle hindurchging, die bei den Melfanern die Funktion von Krankenbetten erfüllten, stellte sich heraus, daß Chefarzt Seldal gar nicht anwesend war, obwohl sein Name an der Tafel auf der Station gestanden hatte, auf der das diensthabende Personal aufgeführt wurde. Auch die Lernschwester Tarsedth fehlte.
Unter den illensanischen, kelgianischen und tralthanischen Schwestern und Krankenpflegern, die rings um ihn arbeiteten, wäre ein Nallajimer nur schwer zu übersehen gewesen, und das bedeutete, Seldal mußte sich noch in dem an die Station angrenzenden Operationssaal befinden. Über die nach oben führende Rampe stieg Lioren zur Zuschauergalerie hinauf — viele medizinische Mitarbeiter waren physiologisch nicht in der Lage, Treppen zu steigen — und sah von dort aus, daß er mit seiner Vermutung richtiggelegen hatte. Zudem stellte er fest, daß sich noch zwei weitere Zuschauer auf der Galerie befanden. Wie er gehofft und insgeheim auch erwartet hatte, handelte es sich bei einem der beiden um Tarsedth, die kelgianische Krankenschwester, die ihn bei seinem ersten Besuch in der Kantine vor einigen Tagen angesprochen hatte.
„Was machen Sie denn hier?“ erkundigte sich die Kelgianerin auch sogleich neugierig, wobei ihr Fell vor Überraschung unregelmäßige Wellen schlug. „Nach dem Schlamassel, den Sie auf Cromsag angerichtet haben, hat man uns gesagt, Sie würden in nächster Zeit nichts mehr mit Aderlässen bei fremden Spezies zu tun haben.“
Nach Liorens Ansicht wäre es höchst niederträchtig, eine Angehörige einer anderen Spezies zu belügen, die selbst nicht einmal dazu imstande war, auch nur leise zu flunkern, und deshalb entschied er sich für den Kompromiß, nicht die ganze Wahrheit zu sagen.
„Für die chirurgische Kunst fremder Spezies interessiere ich mich immer noch, Schwester Tarsedth, auch wenn ich selbst nicht mehr operieren darf“, antwortete er. „Ist diese Operation denn interessant?“
„Für mich jedenfalls weniger“, entgegnete Tarsedth und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder den Vorgängen unterhalb der Galerie zu. „Mein Hauptinteresse gilt hier dem Vorgehen des OP-Personals, der künstlichen Schwerkraftregulierung, der operativen Vorbereitung des Patienten sowie dem Einsatz der Instrumente und bestimmt nicht diesem ganzen chirurgischen Herumgestochere in irgendwelchen unseligen melfanischen Eingeweiden.“
Der andere Zuschauer auf der Galerie, ein FROB, ließ seine Sprechmembran vibrieren — das war die Art, auf die sich ein Hudlarer räusperte — und sagte: „Ich interessiere mich allerdings schon für die Operation, Lioren. Wie Sie sehen können, nähert sie sich allmählich dem Abschluß. Aber falls für Sie irgendein Teil der vorher vorgenommenen Eingriffe von besonderem Interesse ist, würde ich mich freuen, Sie Ihnen darlegen zu dürfen.“
Lioren richtete sämtliche Augen auf den Sprecher, war aber wie die meisten Mitarbeiter des Hospitals nicht in der Lage, einen Hudlarer vom anderen zu unterscheiden.
Die durchsichtigen Augendeckel waren genau wie der untersetzte, massige Körper und die sechs spitz zulaufenden, ungeheuer starken Tentakel, die ihn trugen, vollkommen glatt. Die Haut, die vom Aussehen und von der Struktur her einem nahtlosen Panzer glich, war von verfärbten Flecken aus getrocknetem und aufgebrauchtem Nahrungspräparat übersät, ein Anzeichen dafür, daß sich der Hudlarer dringend neu besprühen mußte. Doch der FROB schien Lioren zu kennen oder zumindest von ihm gehört zu haben. War es möglich, daß sich dieser freundliche Hudlarer wie Tarsedth schon einmal mit ihm unterhalten hatte?