Mit einem Schulungsband wurden einem aber nicht nur die physiologischen Fakten einer Spezies ins Gehirn eingeimpft, sondern auch die gesamte Persönlichkeit und das komplette Gedächtnis des Wesens, das dieses Wissen einst besessen hatte. Praktisch setzte sich ein Diagnostiker somit freiwillig einer höchst drastischen Form multipler Schizophrenie aus. Die fremden Persönlichkeiten, die seinen Geist scheinbar mit ihm teilten, konnten durchaus unangenehme, aggressive Wesen mit allen Arten von Reizbarkeit und Phobien sein — schließlich sind Genies nur selten charmante Persönlichkeiten. Bei der Durchführung einer Operation oder Behandlung machte sich das normalerweise nicht bemerkbar, weil sich sowohl der Diagnostiker als auch der Geist des Bandurhebers auf die rein medizinischen Aspekte der Arbeit konzentrierte. Die schlimmsten Auswirkungen wurden erst spürbar, wenn der Bandbesitzer schlief.
Wie Lioren aus eigener Erfahrung mit einigen wenigen Schulungsbändern wußte, konnten Alpträume von Aliens wirklich entsetzlich alptraumhaft sein. Die sexuellen Phantasien und Wunschträume von Aliens reichten aus, um in demjenigen, der das Band im Kopf gespeichert hatte, den Wunsch hervorzurufen, lieber tot zu sein — falls die betreffende Person überhaupt noch imstande war, einen zusammenhängenden Wunsch zu äußern. Und der körperliche und emotionale Einfluß des Empfindungsvermögens einer riesigen intelligenten Lebensform mit Ektoskelett auf die Psyche und den Verstand eines unglaublich feingledrigen, aber genauso intelligenten vogelähnlichen Wesens konnte Lioren nicht einmal erahnen.
Er beobachte weiterhin den fieberhaft geschäftigen Seldal, während er sich die Redensart ins Gedächtnis zurückrief, die oft vom Hospitalpersonal wiederholt wurde und besagte, daß jeder geistig Zurechnungsfähige, der freiwillig Diagnostiker werden wollte, schon von vornherein verrückt sein mußte; ein Ausspruch, der angeblich von O'Mara selbst stammte.
„Seldals Operation am ELNT fasziniert mich“, sagte Lioren, womit er entschlossen zum Gegenstand seiner Untersuchung zurückkehrte. „Er zeigt keinerlei Unschlüssigkeit, macht keine Pausen, um zu überlegen oder alles noch einmal zu überdenken, und bewegt sich nicht übervorsichtig, wie man es sonst bei Chirurgen sieht, die mit einem Schulungsband im Kopf arbeiten. Ist das bei Nallajimern immer so, wenn sie an fremden Speziesangehörigen Operationen vornehmen?“
„Bei allem Respekt, Lioren“, sagte der Hudlarer, „aber könnten Sie bei der Geschwindigkeit, mit der Seldal operiert, überhaupt irgendeine Verlegenheitspause erkennen, wenn er tatsächlich eine einlegen würde? Wir haben ihm schon dabei zugesehen, wie er an einem Terrestrier eine Magenresektion vorgenommen und gleichzeitig irgend etwas mit einer DBLF angestellt hat, das Ihnen besser Tarsedth erklären sollte, weil ich den Fortpfianzungsmechanismus der Kelgianer schwer zu verstehen finde.“
„Sie müssen gerade reden!“ unterbrach ihn Tarsedth mit ungehaltenem Fell. „Jedesmal, wenn eine hudlarische Mutter ein Kind zur Welt bringt, wechselt sie das Geschlecht und wird männlich. Das ist. schlichtweg unanständig!“
„Vermutlich mußte Seldal für die beiden Patienten, von denen ich eben gesprochen habe, nur kurzfristig die Schulungsbänder im Kopf speichern“, fuhr der Hudlarer fort, „aber trotzdem hatte er sich ohne ersichtliche Mühe auf sie eingestellt. Die letzten sechs Wochen ist er vor allem mit Operationen an Tralthanern beschäftigt gewesen, und nach seinen eigenen Worten findet er diese Arbeit äußerst interessant, anregend und angenehm, und sie rangiert auf seiner Beliebtheitsskala gleich nach den chirurgischen Eingriffen an anderen Nallajimern an zweiter Stelle.“
„An anderen Nallajimerinnen, meint er“, warf Tarsedth ein, deren Fell sich mißbilligend oder sogar eifersüchtig kräuselte. „Wissen Sie, daß in den drei Jahren, die Seldal jetzt hier ist, fast jede weibliche MSVK-Auszubildende mit ihm angebändelt hat? Was die an so einem dürren Federgewicht finden, ist mir völlig unbegreiflich.“
„Funktioniert mein Translator nicht richtig oder soll das heißen, daß Seldal mit einigen Auszubildenden über seine Probleme mit den Schulungsbändern diskutiert hat? Oder was meinen Sie damit, daß fast jede Auszubildende mit ihm ̃̄„angebändelt“ hat?“ fragte Lioren, wobei er versuchte, seine Aufregung darüber zu verbergen, von diesem neuen und womöglich nützlichen Umstand erfahren zu haben.
„Die Diskussionen selbst waren wahrscheinlich immer nur zweitrangig“, antwortete der Hudlarer rasch, bevor Tarsedth etwas sagen konnte, „und haben sich wohl eher um persönliche Vorlieben als um Probleme gedreht. Jedenfalls ist Seldal für einen Chefarzt sehr zugänglich, und normalerweise bittet er nach der Operation jeden, der von der Zuschauergalerie aus zugesehen hat, um Fragen. Heute morgen ist dafür leider keine Zeit gewesen, sonst hätten Sie ihm selbst Fragen stellen können.
Und was Seldals Liebesleben angeht, das in den letzten Wochen anscheinend weniger auffällig geworden ist, so ist mein Interesse dafür bestenfalls akademisch“, fuhr er fort, indem er sich schwerfällig zur Seite wandte, um auch Tarsedth in das Gespräch einzubeziehen. „Doch selbst bei meiner eigenen Spezies ist es nichts Ungewöhnliches, wenn sich FROBs, die gerade zum weiblichen Geschlecht gehören, von männlichen Hudlarern angezogen fühlen, die eine genauso schüchterne und zurückhaltende Persönlichkeit haben wie Seldal. Solche Wesen sind häufig sensibler, zurückhaltender und als Liebhaber einfach interessanter.“
Er wandte sich wieder Lioren zu und fuhr fort: „Um eine Redensart von einem unserer Klassenkameraden abzuändern, die auf Betätigungen zu passen scheint, die mit der Fortpflanzung innerhalb einer Spezies zusammenhängen: ̃̄„Wer nicht wagt, der gewinnt auch manchmaclass="underline" .“
„Er spricht von Hadley, einem terrestrischen Auszubildenden“, erläuterte Tarsedth. „Der soll mal in einem Wartungstunnel verschwunden sein, und zwar mit.“
Von diesem Gerücht speziell war Lioren bisher noch nichts zu Ohren gekommen, da man wahrscheinlich von dem Vorfall offiziell keine Notiz genommen hatte oder das Nachrichtensystem für den Hospitalklatsch an dem Tag mit noch skandalöseren Neuigkeiten überlastet gewesen war. Der Geschichte von Hadleys Fehlverhalten folgten weitere, von denen bereits viele als aktualisierende Nachträge zur entsprechenden psychologischen Akte den Weg in Liorens Abteilung gefunden hatten; wenn auch in einer weit weniger unterhaltenden Form und — bedauerlicherweise — frei von Tarsedths schöpferischen Übertreibungen. Um das Gespräch wieder auf den nallajimischen Chefarzt zu bringen und weitere Abschweifungen zu verhindern, sah er sich allmählich gezwungen, sich aller sprachlichen Tricks zu bedienen, die ihm einfielen. Dabei fand Lioren viel Interessantes über Seldals Verhalten sowie über dessen Persönlichkeit und Interessen heraus. Das waren Informationen, die er sich aus der Akte des Chefarztes nicht hätte verschaffen können. Was seinen Auftrag betraf, so verlief dieser Abend sehr einträglich und, wie er mit zunehmenden Schuldgefühlen dachte, auch sehr vergnüglich.
10. Kapitel
Als am folgenden Morgen Liorens Arbeitstag schon so weit fortgeschritten war, daß sich sein Verdauungstrakt bereits über Beschäftigungslosigkeit zu beklagen begann, trat Braithwaite langsam und bedächtig an den Schreibtisch des Tarlaners heran. Mit seinen wabbeligen, rosa Handflächen nach unten stützte er sich auf einer Stelle der Schreibtischplatte ab, die nicht völlig überfüllt war, winkelte dabei die Arme mit den Ellbogen nach außen an, so daß sich sein Kopf nahe Liorens befand, und sagte leise: „Sie haben jetzt seit mehr als vier Stunden kein einziges Wort gesprochen. Ist was?“
Darüber verärgert, daß ihm der Terrestrier unaufgefordert so nah auf die Pelle gerückt war und bei früheren Gelegenheiten mehrmals an ihm kritisiert hatte, zu viel zu reden, lehnte sich Lioren zurück. Obwohl Braithwaite besorgt war und nur versuchte, hilfsbereit zu sein, hätte es der Tarlaner lieber gesehen, wenn das Verhalten seines unmittelbaren Vorgesetzten nicht so wechselhaft gewesen wäre. Es gab sogar Momente, in denen er es bei weitem vorzog, wenn O'Mara an ihn herantrat, zumal der Chefpsychologe wenigstens durchweg gehässig war.