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Der ehemalige Diagnostiker und augenblickliche Patient Mannon lag mit Biosensoren, die seine Körperfunktionen überwachten, aber auf eigenen Wunsch ohne die üblichen Lebenserhaltungsmechanismen in einem Privatzimmer abseits der medizinischen Hauptstation für DBDGs. Sein Gesundheitszustand war beinahe kritisch, aber stabil, und als Lioren und Cha Thrat das Zimmer betreten hatten, waren seine Augen geschlossen geblieben, was darauf hindeutete, daß er entweder bewußtlos war oder schlief. Daß sie den Patienten unbeaufsichtigt antrafen, hatte Lioren zunächst gleichzeitig gefreut und überrascht, denn die Terrestrier wurden zu jenen intelligenten Spezies gezählt, die sich gern im Kreis der Familie oder unter Freunden befinden, wenn ihr Leben zu Ende geht. Doch seine Überraschung hatte sich gelegt, als ihnen von der Oberschwester der Station mitgeteilt worden war, daß sich zahlreiche Besucher beim Patienten aufgehalten hätten, die erst wenige Augenblicke vor Liorens und Cha Thrats Ankunft gegangen oder fortgeschickt worden seien.

„Lassen Sie uns gehen, bevor er aufwacht“, drängte Cha Thrat sehr leise. „Der Vorwand für Ihren Besuch, ihn zu fragen, ob er mit der Atmosphäre des Zimmers zufrieden sei, ist unter diesen Umständen nicht nur albern, sondern auch gefühllos. Außerdem kriegt es nicht mal O'Mara hin, einen Bewußtlosen zu beschwören.“

Einen Moment lang betrachtete Lioren die Bildschirme, aber er konnte sich nicht mehr an die vor so langer Zeit gelernten Meßwerte der Lebensvorgänge bei Terrestriern erinnern. Dieses Zimmer war ein sehr ruhiger und ungestörter Ort, der sich nach seinem Dafürhalten dazu eignete, persönliche Fragen zu stellen.

„Cha Thrat, was genau meinen Sie mit ̃̄„beschwören“?“ erkundigte er sich leise.

Es handelte sich um eine einfache Frage, für die eine lange und komplizierte Antwort erforderlich war, die von Cha Thrat nicht gerade dadurch verkürzt oder vereinfacht wurde, indem sie alle paar Minuten innehielt, um einen beunruhigten Blick auf den Patienten zu werfen.

Die sommaradvanische Zivilisation gliederte sich in drei verschiedene gesellschaftliche Klassen — Sklaven, Krieger und Herrscher — , und die medizinische Zunft, die für ihr Wohlergehen verantwortlich war, teilte sich genauso auf.

Auf der untersten Stufe befanden sich die Sklaven, Sommaradvaner, die nicht nach Beförderung streben wollten. Ihre Arbeit stellte keine großen Anforderungen, hatte immer die gleichen Abläufe und war vollkommen ungefährlich, weil die Sklaven im täglichen Leben vor schweren körperlichen Schäden geschützt waren. Bei den für ihre gesundheitliche Versorgung verantwortlichen Heilern handelte es sich um Ärzte, die rein medizinische Behandlungsmethoden anwandten. Die zweite Klasse, bei weitem nicht so groß wie die der Sklaven, bildeten die Krieger, die höchst verantwortungsvolle Positionen bekleideten und in der Vergangenheit häufig beträchtlichen körperlichen Gefahren ausgesetzt gewesen waren.

Zwar hatte es seit vielen Generationen keinen Krieg mehr auf Sommaradva gegeben, aber die Krieger hatten trotzdem ihre Bezeichnung beibehalten, weil sie die Nachfahren der Sommaradvaner waren, die gekämpft hatten, um ihre Heimatländer zu schützen. Sie lebten damals von der Jagd und errichteten Verteidigungsanlagen, während sich um ihre körperlichen Bedürfnisse die Sklaven kümmerten. Heutzutage waren die Angehörigen dieser Klasse Techniker, Ingenieure und Wissenschaftler, die nach wie vor die lebensgefährlichen Arbeiten leisteten oder die Aufgaben mit dem höchsten Prestigewert erfüllten, zu denen auch das Schützen der Herrscher gehörte. Aus diesem Grund lag es in der Natur der Sache, daß die Verletzungen der Krieger normalerweise durch Gewalteinwirkung zustande gekommen waren und eher chirurgische Eingriffe als medizinische Behandlungen erforderlich machten. Und diese Aufgabe fiel in den Verantwortungsbereich der Chirurgen für Krieger. An der Spitze der medizinischen Hierarchie von Sommaradva standen die Heiler für Herrscher, die eine noch größere Verantwortung trugen, die ihnen aber zuweilen viel weniger Belohnung oder Befriedigung einbrachte.

Gegen sämtliche Unfälle und Verletzungen geschützt, stellte die Klasse der Herrscher die Administratoren, Akademiker, Forscher und Planer auf Sommaradva. Sie waren diejenigen, die mit der reibungslosen Führung der Städte, Kontinente und des gesamten Planeten betraut waren, und die Krankheiten, von denen sie befallen wurden, entsprangen ausnahmslos Trugbildern ihrer Phantasie. Ihre Heiler beschäftigten sich ausschließlich mit Zauberei, Beschwörungen, Wunderheilung und all den anderen Seiten nichtnaturwissenschaftlicher Medizin.

„Natürlich ist es mit den sozialen und wissenschaftlichen Fortschritten unserer Zivilisation zu einer zunehmenden Überschneidung der Verantwortungsbereiche gekommen“, fuhr Cha Thrat fort. „Hin und wieder brechen sich Sklaven eine Gliedmaße. Manchmal bedroht auch der psychische Stress, in den ein Sklave gerät, der für die Prüfung lernt, die er zur Beförderung innerhalb seiner Klasse oder zum Aufstieg in eine höhere Klasse ablegen muß, seine geistige Gesundheit, oder ein Herrscher bekommt eine simple Magenverstimmung. All das sind Fälle, die eine Behandlung durch Heiler erforderlich machen, die eigentlich für eine andere gesellschaftliche Klasse zuständig sind.

Schon seit frühester Zeit sind unsere Heiler in die drei Kategorien Ärzte, Chirurgen und Zauberer unterteilt“, schloß Cha Thrat.

„Danke“, sagte Lioren. „Jetzt verstehe ich. Meine Verständnisschwierigkeiten haben lediglich auf einer gewissen Verwirrung bezüglich der Wortbedeutungen und einer zu wörtlichen Übersetzung beruht. Für Sie beschreibt der Begriff ̃̄„Beschwörung“ eine Psychotherapie, die kurz und einfach oder langwierig und kompliziert sein kann, und bei dem dafür verantwortlichen ̃̄„Zauberer“ handelt es sich nach Ihrem Verständnis um einen Psychologen, der.“

„Nein, es handelt sich eben nicht um einen Psychologen!“ widersprach Cha Thrat in scharfem Ton; dann fiel ihr wieder der Patient ein, und mit gesenkter Stimme fuhr sie fort:

„Jeder Nicht-Sommaradvaner, den ich kennengelernt habe, begeht den gleichen Fehler. Auf meinem Heimatplaneten ist ein Psychologe ein Wesen von niedrigem gesellschaftlichen Rang, das sich um wissenschaftliche Erkenntnisse bemüht, indem es durch körperliche und seelische Anspannung hervorgerufene Gehirnströme oder Veränderungen im Körper mißt oder eingehende Beobachtungen bezüglich des nachfolgenden Verhaltens des Betreffenden anstellt. Ein Psychologe versucht, auf dem Gebiet der Alpträume und wechselnden subjektiven Realitäten unumstößliche Gesetze aufzustellen und aus dem eine Wissenschaft zu machen, was schon immer eine Kunst gewesen ist, und zwar eine ausschließlich von Zauberern ausgeübte Kunst.

Ein Zauberer hingegen kann sich für seine Beschwörungen die Hilfsmittel und tabellarischen Aufstellungen des Psychologen zunutze machen, um die komplizierten, unstofflichen Strukturen des Bewußtseins zu beeinflussen, muß es aber nicht unbedingt“, fuhr die Sommaradvanerin fort, bevor Lioren etwas sagen konnte. „Ein Zauberer wendet Worte, Schweigen, sehr genaue Beobachtungen und — am allerwichtigsten — die eigene Intuition an, um die anormale subjektive Wirklichkeit des Patienten zum Vorschein zu bringen und sie der objektiven Wirklichkeit schrittweise anzupassen. Zwischen einem bloßen Psychologen und einem Zauberer besteht ein Riesenunterschied.“

Cha Thrats Stimme war im Verlauf ihrer Erklärungen wieder lauter geworden, doch die Sensoren zeigten beim Patienten keine Veränderung des Zustands an.

Lioren leuchtete ein, daß sich der Sommaradvanerin nur wenig Gelegenheit bot, ungehindert über ihren Heimatplaneten und die wenigen Freunde zu sprechen, die sie dort zurückgelassen hatte, oder ihren Gefühlen über die Intoleranz ihrer gleichrangigen Berufskollegen Luft zu machen, durch die sie gezwungen worden war, ans Orbit Hospital zu kommen. Cha Thrat fuhr fort, ausführlich von den Irrungen und Wirrungen zu erzählen, die durch ihr außerordentlich strenges Berufsethos überall im Hospital verursacht worden waren, bis sie schließlich vom Zauberer O'Mara gerettet worden war, und verschwieg dabei auch ihre persönlichen Gefühle und Reaktionen auf all diese Vorfälle nicht. Ganz offensichtlich wollte Cha Thrat über sich selbst reden — und mußte es vielleicht sogar dringend.