„Haben Sie Schmerzen, Doktor?“ fragte Lioren.
„Sie wissen doch, daß ich keine Schmerzen habe, verdammt noch mal!“ antwortete Mannon mit einer Stimme, die durch den Unwillen kräftiger klang. „In den schlechten alten Zeiten hat es vielleicht Schmerzen. und unwirksame Schmerzmittel gegeben, die die Funktion der unwillkürlichen Muskulatur dermaßen. eingeschränkt haben, daß. die größeren Organe versagten und. das Medikament für den Tod des Patienten. genauso verantwortlich war wie die Schmerzen. Dadurch ist der behandelnde Arzt. mit einem Minimum an moralischen Gewissensbissen davongekommen und. seinem Patienten ein langsamer und qualvoller Tod erspart geblieben. Doch inzwischen haben wir gelernt, Schmerzen ohne schädliche Nebenwirkungen zu vertreiben.. und ich kann nichts anderes tun, als abzuwarten, welches von meinen lebenswichtigen Organen. als erstes aus Altersschwäche den Dienst versagt.
Ich hätte Seldal nicht auf meine Eingeweide loslassen sollen“, schloß Mannon, wobei seine Stimme wieder ins Flüstern verfiel. „Aber diese Verstopfungen. waren wirklich unangenehm.“
„Ich kann das durchaus nachempfinden“, sagte Lioren, „denn auch ich wünsche mir den Tod. Doch Sie können mit Stolz und ohne Kummer auf Ihr vergangenes Leben zurückblicken und einem Ende entgegensehen, das sich nicht lange hinauszögern wird. Dagegen liegt in meiner Vergangenheit und Zukunft nichts als Schuld und Elend, die ich ertragen muß, bis.“
„Können Sie wirklich nachempfinden, was in mir vorgeht, Lioren?“ fiel ihm Mannon ins Wort. „Sie machen auf mich eher den Eindruck. nichts als eine stolze und gefühllose. aber sehr effektive Heilungsmaschine zu sein. Der Vorfall auf Cromsag. hat gezeigt, daß diese Maschine einen Defekt aufweist. Sie wollen die Maschine zerstören. während O'Mara sie reparieren will. Wer von Ihnen beiden letztlich Erfolg haben wird, weiß ich nicht.“
„Nur um einer Strafe zu entgehen, würde ich mich niemals selbst zerstören!“ widersprach Lioren entschieden.
„Einem durchschnittlichen Personalmitglied würde ich solche. persönlich verletzenden Dinge nicht sagen“, fuhr Mannon fort. „Ich weiß, daß Sie glauben, solche Beleidigungen. und noch Schlimmeres verdient zu haben. und Sie erwarten keine Entschuldigung von mir. Aber ich entschuldige mich trotzdem. weil ich Sie auf eine Art verletze, die ich nicht für möglich gehalten habe. und Sie regelrecht attackiere. Aus diesem Grund ignoriere ich auch meine Freunde, wenn sie mich besuchen, damit sie nicht merken. daß ich nichts als ein rachsüchtiger alter Mann bin.“
Bevor Lioren eine Entgegnung darauf einfiel, sagte Mannon mit schwacher Stimme: „Ich habe jemanden verletzt, der mir nichts angetan hat. Das kann ich bei Ihnen nur wiedergutmachen, indem ich. Ihnen mit Auskünften über Seldal helfe. Wenn er mich morgen früh besucht. werde ich ihm ganz bestimmte und sehr persönliche Fragen stellen. Aber die Verbindung zu Ihnen. werde ich ihm gegenüber natürlich nicht erwähnen, und von selbst. wird er in dieser Richtung keinerlei Verdacht hegen.“
„Danke“, sagte Lioren. „Aber ich verstehe nicht, wie Sie ihm solche Fragen.“
„Das ist ganz einfach“, unterbrach ihn Mannon, dessen Stimme plötzlich wieder kräftiger wurde. „Seldal ist Chefarzt, und ich bin bis zu meiner unverhofften Degradierung zum Patienten Diagnostiker gewesen. Aus folgenden drei Gründen wird sich Seldal freuen, alle meine Fragen zu beantworten: aus Achtung vor meinem früheren Rang als Diagnostiker; dann, weil er einem Sterbenden, der, was sehr gut möglich ist, zum letztenmal fachsimpeln will, seinen Willen lassen möchte; und besonders deshalb, weil ich schon seit drei Tagen vor der Operation kein einziges Wort mehr mit ihm gesprochen habe. Sollte ich nach einer solchen Art des Vorgehens immer noch keine nützlichen Informationen für Sie herausbekommen haben, dann gibt es auch keine.“
Nur weil er Lioren gegenüber ein paar unhöfliche Worte gebraucht hatte, wollte der Terrestrier durch diese womöglich letzte konstruktive Tat seines Lebens dem Tarlaner bei den Untersuchungen zu Seldal helfen, wie es niemand sonst konnte. Lioren hatte es schon immer für falsch gehalten, sich bei einem Krankheitsfall auch nur ansatzweise emotional zu engagieren, da nach seinem Dafürhalten den Interessen des Patienten am besten durch die unpersönliche, medizinisch-sachliche Einstellung gedient war — und Mannon war nicht einmal sein Patient. Doch irgendwie gewann er allmählich den Eindruck, als wäre die Untersuchung über das Verhalten des nallajimischen Chefarztes nicht mehr seine einzige Aufgabe.
„Ich möchte Ihnen nochmals für Ihre Hilfe in dieser Angelegenheit danken“, sagte Lioren schließlich.
„Aber ich wollte eben sagen, daß ich nicht verstehe, warum Sie andere in einer Weise verletzen, die Sie selbst nicht für möglich gehalten hätten, wo Sie doch dank des Medikaments keine Schmerzen mehr haben dürften. Handelt es sich womöglich um ein nichtmedizinisches Problem?“
Mit starrem Blick sah ihn Mannon eine scheinbar ewig lange Zeit schweigend an, und Lioren wünschte, er könnte den Ausdruck auf dem ausgezehrten und tief zerfurchten Gesicht lesen. Er versuchte es noch einmal.
„Falls es ein nichtmedizinisches Problem ist, wäre es Ihnen dann lieber, wenn ich O'Mara holen lassen würde?“
„Nein!“ wehrte Mannon mit schwacher, aber sehr bestimmter Stimme ab. „Ich will mich nicht mit dem Chefpsychologen unterhalten. Der ist schon etliche Male hiergewesen, bis er es endlich aufgegeben hat zu versuchen, mit jemandem ins Gespräch zu kommen, der sich die ganze Zeit schlafend stellt. Seither ist er, wie meine anderen Freunde auch, weggeblieben.“
Es lag auf der Hand, daß Mannon zwar mit jemandem reden wollte, sich bislang aber noch nicht dazu durchgerungen hatte. Nach Liorens Ansicht könnte sich Schweigen als die sicherste Form herausstellen, ihn danach zu fragen.
„In Ihrem Kopf steckt zu viel, das Sie vergessen möchten“; fuhr Mannon schließlich mit einer Stimme fort, die von irgendwoher neue Kraft geschöpft hatte. „Umgekehrt gibt es in meinem noch mehr, an das ich mich nicht erinnern kann.“
„Ich verstehe Sie immer noch nicht ganz“, warf Lioren ein.
„Muß ich Ihnen das wirklich erklären, als ob Sie ein Krankenpflegeschüler am ersten Tag wären?“ fragte der Terrestrier. „Den größten Teil meines Berufslebens bin ich Diagnostiker gewesen. Als solcher mußte ich — oft für einen Zeitraum von mehreren Jahren — das Wissen, die Persönlichkeiten und die medizinischen Erfahrungen von bis zu zehn Lebewesen gleichzeitig im Kopf gespeichert haben. Dabei hat man das Gefühl, daß der eigene Verstand von vielen fremden Persönlichkeiten in Besitz genommen wird, die — weil es sich bei den Spezialisten, von denen diese Aufzeichnungen gemacht werden, selten um schüchterne und zurückhaltende Wesen handelt — gegeneinander um die Vorherrschaft ringen. Das ist ein subjektives geistig-seelisches Phänomen, das man überwinden muß, wenn man Diagnostiker bleiben will, doch am Anfang scheint der eigene Verstand eine Art Schlachtfeld mit zu vielen Kämpfern zu sein, die sich gegenseitig bekriegen, bis schließlich.“
„Das verstehe ich gut“, unterbrach ihn Lioren. „Während meiner Zeit als Chefarzt hier am Hospital hat man mal von mir verlangt, drei Bänder gleichzeitig im Kopf gespeichert zu haben.“
„Aber der Hausherr ist in der Lage, Ruhe und Ordnung zu schaffen“, fuhr Mannon langsam fort, „normalerweise, indem er lernt, diese fremden Persönlichkeiten zu verstehen, sich auf sie einzustellen und sich mit ihnen zu befreunden, ohne irgendeinen Teil des eigenen Verstands aufzugeben, bis er die notwendige Anpassung vollziehen kann. Das ist der einzige Weg, um einem schweren psychischen Trauma und der Streichung vom Dienstplan der Diagnostiker zu entgehen.“