Kurz schloß Mannon die Augen, bevor er weitersprach. „Doch jetzt ist das geistige Schlachtfeld leer, verlassen von den einstigen Kämpfern, die Freunde geworden sind. Ich bin ganz allein mit dem Wesen namens Mannon und habe nur noch Mannons Erinnerungen, zu der auch die Erinnerung gehört, noch viele andere Erinnerungen gehabt zu haben, die mir genommen worden sind. Wie man mir gesagt hat, ist das beabsichtigt, weil einem der Verstand vor dem Tod eine Zeitlang allein gehören sollte. Aber ich fühle mich einsam, einsam und leer und umsorgt und vollkommen schmerzfrei, während ich den subjektiven Eindruck habe, eine Ewigkeit damit zu verbringen, auf mein Ende zu warten.“
Lioren geduldete sich, bis er ganz sicher war, daß Mannon zu Ende gesprochen hatte; dann sagte er: „In einer Zeit wie dieser werden Terrestrier, die an unheilbarer Altersschwäche leiden, und eigentlich auch die Mitglieder der meisten anderen Spezies durch die Anwesenheit von Freunden getröstet. Aus irgendeinem Grund haben Sie sich dafür entschieden, solche Besuche von sich fernzuhalten, aber wenn Sie die Gesellschaft der Bandurheber, die einmal Ihre geistigen Freunde gewesen sind, vorziehen, wäre doch die einzig vernünftige Lösung, sich wieder Schulungsbänder Ihrer Wahl ins Gehirn einspielen zu lassen. Ich werde das dem Chefpsychologen vorschlagen, der dann vielleicht.“
„Schlagen Sie sich bloß Ihre psychologischen Ambitionen aus dem Kopf“, fiel ihm Mannon ins Wort. „Oder ist Ihrem tarlanischen Verstand schon entgangen, daß Sie Seldals Verhalten untersuchen sollen und nicht einen seiner Patienten namens Mannon? Vergessen Sie die Bänder, Lioren. Sollte O'Mara nämlich jemals herausfinden, was Sie als Auszubildender der psychologischen Abteilung hier zu tun versucht haben, werden Sie ernste Probleme bekommen.“
„In größere Schwierigkeiten zu geraten als in die, in denen ich ohnehin schon stecke, kann ich mir nicht vorstellen“, reagierte Lioren in ernstem Ton.
„Tut mir leid“, entschuldigte sich Mannon, wobei er eine der Hände ein paar Zentimeter weit über die Decke hob und wieder sinken ließ. „Einen Augenblick lang hatte ich den Vorfall auf Cromsag ganz vergessen. Verglichen mit der Strafe, die Sie über sich selbst verhängt haben, wäre eine Standpauke von O'Mara das reinste Zuckerschlecken.“
Lioren reagierte nicht auf Mannons Entschuldigung, da eine Person, die Schuld auf sich geladen hatte, nach seiner Auffassung keine Entschuldigung verdiente, und sagte statt dessen: „Sie haben recht, wieder die Schulungsbänder in Ihrem Gehirn zu speichern ist keine gute Lösung. Zwar besitze ich nur dürftige Kenntnisse über terrestrische Psychologie, aber wäre es nicht besser, wenn Ihr Kopf in dieser Zeit allein Ihnen gehören und nicht mit anderen Persönlichkeiten gefüllt sein würde, deren Gehirnströme aufgezeichnet worden sind, bevor die Betreffenden überhaupt von Ihrer Existenz gewußt haben, und deren scheinbare Freundschaft zu Ihnen nichts als eine Selbsttäuschung gewesen ist, die Ihnen die Anwesenheit dieser fremden Wesen erträglicher machen sollte? Müßten Sie nicht in dieser Zeit das, was in Ihrem Kopf steckt, Ihre Gedanken, Erfahrungen, Ihre richtigen und falschen Entscheidungen und die beachtlichen Kenntnisse, die Sie im Laufe Ihres Lebens gesammelt haben, in Ordnung bringen? Das würde Ihnen bestimmt dabei helfen, die verbleibende Zeit sinnvoll zu nutzen. Und wenn Sie Ihre Freunde nicht mehr davon abhalten würden, Sie zu besuchen, könnte das auch eine Verkürzung der Zeit.“
„Ein intelligentes Lebewesen, das sich kein langes Leben und einen schnellen Tod gewünscht hat, muß ich erst noch kennenlernen“, unterbrach ihn Mannon. „Doch solche Wünsche werden nur selten erfüllt, nicht wahr, Lioren? Zwar läßt sich mein Leiden nicht mit Ihrem vergleichen, aber ich werde noch eine lange Zeit in einem Körper verbringen müssen, der aller Gefühle beraubt ist und in dem ein Verstand steckt, der für mich fremd und furchterregend ist, weil es sich um meinen eigenen Geist handelt, den ich nicht mehr auszufüllen vermag.“
Die beiden tiefliegenden Augen des ehemaligen Diagnostikers hefteten sich auf dasjenige Sehorgan von Lioren, das ihnen am nächsten war.
Mehrere Minuten lang erwiderte der Tarlaner den starren Blick des Patienten, wobei er sich Mannons Worte ins Gedächtnis zurückrief und jedes einzelne auf unausgesprochene Bedeutungen hin abklopfte, doch bevor er etwas sagen konnte, ergriff der Terrestrier das Wort.
„Seit vielen Wochen habe ich nicht mehr so lange geredet, und ich bin sehr müde“, sagte er. „Bitte gehen Sie jetzt, sonst werde ich noch so unhöflich sein, mitten im Satz einzuschlafen.“
„Bitte haben Sie nur noch etwas Geduld mit mir, denn ich habe noch eine Frage an Sie“, bat Lioren. „Könnte es sein, daß Sie glauben, jemand, der bereits das ungeheuerliche Verbrechen des Völkermords begangen hat, würde nicht zusätzlich darunter leiden, wenn er einem Kollegen zu Gefallen eine einzelne und — im Verhältnis gesehen — verzeihlichere Straftat verüben soll? Wollen Sie mir nahelegen, Ihnen die Wartezeit zu verkürzen?“
Mannon schwieg so lange, daß Lioren schon die Anzeigen der Biosensoren überprüfte, um sicherzugehen, ob der Terrestrier nicht mit offenen Augen das Bewußtsein verloren hatte; dann fragte Mannon: „Falls das mein Vorschlag wäre, was würden Sie darauf antworten?“
Lioren wartete mit der Entgegnung nicht so lange. „Meine Antwort wäre ein klares Nein. Wenn möglich, muß ich versuchen, meine Schuld zu verringern und sie auf keinen Fall zu vergrößern, in welch geringem Ausmaß auch immer. Über die ethischen und moralischen Aspekte einer solchen Tat kann man zwar diskutieren, doch aus medizinischen Gründen kann ich sie nicht billigen, weil Sie keinerlei körperliche Schmerzen haben. Ihre Beschwerden sind rein subjektiv und das Produkt eines von fremden Gedanken befreiten Verstandes, der nur noch ein einziges Wesen beherbergt, nämlich Sie selbst, und Sie sind dort nicht mehr glücklich.
Doch das ist keine neue Erfahrung für Sie, weil es bei Ihnen der Normalzustand gewesen ist, bevor Sie Chefarzt und schließlich Diagnostiker geworden sind“, fuhr Lioren fort. „Ich habe Ihnen bereits vorgeschlagen, Ihren Verstand wieder mit alten Erinnerungen, Erlebnissen oder fachlichen Entscheidungen aufzufüllen, die Ihnen Spaß gemacht haben, oder mit Problemen, die von Ihnen mit Vergnügen gelöst worden sind. Oder würden Sie ihn lieber weiterhin mit neuen Physiologiebändern trainieren?“
Das, was er nun sagen wollte, würde sich gefühllos und selbstsüchtig anhören und könnte den Patienten sehr gut so erzürnen, daß er die weitere Zusammenarbeit verweigerte, aber Lioren sprach es trotzdem aus.
„Beispielsweise wäre da das ungelöste Rätsel des Verhaltens von Seldal“, fügte er hinzu.
„Verschwinden Sie“, forderte ihn Mannon mit schwacher Stimme auf, wobei er die Augen schloß. „Lassen Sie mich jetzt allein.“
Lioren ging erst, nachdem die Biosensoren die Veränderungen angezeigt hatten, die ihm verrieten, daß der Schlaf des Patienten in diesem Fall keine Verstellung war.
Als er am nächsten Morgen wieder ins Büro kam, konzentrierte sich Lioren bewußt auf die Routinearbeiten, um ein Gespräch mit Cha Thrat über Mannon zu vermeiden. Seiner Ansicht nach sollten die Äußerungen eines todkranken Patienten weder zu streng beurteilt noch anderen gegenüber wiederholt werden, insbesondere, da sie keinen direkten Bezug zur Untersuchung von Seldals Verhalten hatten.
Von den anderen drei postoperativen Patienten Seldals, die er fragte, waren zwei bereit, sich ausführlich mit ihm zu unterhalten — über sich selbst, über das Krankenhausessen und über die Schwestern, deren Pflege manchmal so sanft wie die Hände eines Elternteils war und dann wieder so gefühllos wie ein Tritt vom Hinterbein eines Tralthaners — , aber zu ihrem nallajimischen Chirurgen wollten sie sich fast überhaupt nicht äußern. Während der kurzen Zeit, die Seldal bei ihnen verbrachte, pflegte der MSVK offensichtlich selbst kaum etwas zu sagen, sondern hauptsächlich zuzuhören, was für einen Chefarzt zwar ein wenig ungewöhnlich sein mochte, aber keinesfalls eine charakterliche Anomalie darstellte, die schwerwiegend genug gewesen wäre, um O'Mara damit zu belästigen. Darum war Lioren zwar enttäuscht, aber keineswegs überrascht, als seine allgemeinen und notwendigerweise unbestimmten Fragen zu keinen Ergebnissen führten.