Für die postoperative Pflege des dritten Patienten waren tralthanische und hudlarische Schwestern verantwortlich, denen man verboten hatte, den Fall außerhalb der Station zu besprechen. Desgleichen hatte Seldal sämtlichen Mitgliedern anderer Spezies, die eine geringere Körpermasse als die der Hudlarer oder Tralthaner aufwiesen, untersagt, sich auch nur ansatzweise in die Nähe des Patienten zu begeben. Durch diesen geheimnisvollen Patienten wurde Liorens Neugier geweckt, und als er sich entschloß, per Computer dessen Krankenakte abzurufen, mußte er feststellen, daß ihm der Zugriff auf die Daten verweigert wurde.
Als sich Oberschwester Hredlichi mit ihm kurz darauf in Verbindung setzte, um ihm mitzuteilen, Mannon habe sie angewiesen, Lioren von nun an jederzeit den Besuch bei dem ehemaligen Diagnostiker zu gestatten, war er angenehm überrascht. Noch mehr überraschte ihn jedoch das, was ihm der Terrestrier beim nächsten Besuch gleich zu Anfang verkündete.
„Diesmal werden wir uns über Chefarzt Seldal, über Ihre Untersuchung und über Sie selbst unterhalten, nicht über mich“, entschied Mannon.
Er sprach langsam und mit schwacher Stimme, die gerade noch zu hören war, doch er machte keine langen Atempausen und verhielt sich nach Liorens Auffassung keinesfalls wie ein todkranker Patient, sondern eher wie ein leicht kränkelnder Diagnostiker.
Mit dem Nallajimer hatte sich Mannon unterhalten, als Seldal auf seinen zweimal täglich durchgeführten Rundgängen durch die Station bei ihm vorbeigekommen war.
Laut Mannon sei Seldal beide Male hocherfreut gewesen, daß sich der Patient wieder mit ihm unterhalten und Interesse am allgemeinen Geschehen und an anderen Lebewesen als sich selbst gezeigt habe. Beim ersten Gespräch sei offenkundig gewesen, daß sich Seldal seinem Patienten anpassen wollte, indem er Mannons bewußt allgemein gehaltene Fragen nach dem neuesten Hospitalklatsch und den übrigen Patienten beantwortet habe, und der nallajimische Chefarzt habe sich bei ihm viel länger aufgehalten, als dies aus medizinischer Sicht notwendig gewesen sei.
„Natürlich hat er das nur aus beruflicher Höflichkeit gegenüber der Person getan, die ich mal gewesen bin“, fuhr Mannon fort. „Zu den Leuten, über die wir gesprochen haben, hat aber auch der neue Auszubildende der psychologischen Abteilung gehört — dieser Lioren, der anscheinend ohne klare Vorstellung von dem, was er da eigentlich treibt, durchs Hospital umherirrt.“
Unwillkürlich und ruckartig nahmen Liorens mittlere Gliedmaßen die tarlanische Verteidigungshaltung ein, doch die Bedrohung wurde schon durch die nächsten Worte des Patienten beseitigt.
„Keine Sorge“, beruhigte ihn Mannon. „Wir haben über Sie selbst gesprochen, nicht über Ihr Interesse an Seldal. Oberschwester Hredlichi, die vier Münder hat und nicht einen davon halten kann, hat Seldal von Ihren häufigen Besuchen bei mir berichtet, und der Chefarzt wollte gerne von mir wissen, warum ich das erlaubt hätte und welches unsere Gesprächsthemen gewesen seien. Da ich ihm so kurz vor meinem Ende keine glatte Lüge auftischen wollte, habe ich behauptet, wir hätten uns über unsere Schwierigkeiten unterhalten und daß mir im Vergleich zu Ihren Problemen meine eigenen geradezu lächerlich klein erscheinen würden.“
Einen Moment lang schloß Mannon die Augen, und Lioren fragte sich, ob der Terrestrier durch die Anstrengung des langen, ununterbrochenen Monologs erschöpft sein könnte, doch dann schlug der ehemalige Diagnostiker sie wieder auf und fuhr fort: „Bei seiner zweiten Visite habe ich ihn nach seinen Schulungsbändern gefragt Hören Sie doch mal auf, so mit den Armen herumzufuchteln, Sie stoßen noch irgendwas um! Bald wird sich Seldal nämlich den medizinischen und psychologischen Prüfungen unterziehen müssen, die für die Beförderung zum Diagnostiker erforderlich sind, und wie ich weiß wäre ihm dafür jeder Ratschlag von einem ehemaligen Diagnostiker mit jahrzehntelanger Erfahrung willkommen. Meine Fragen nach den Methoden, mit denen er sich auf seine momentanen Gehirnpartner einstellt und sich an sie anpaßt, kamen für ihn also nicht ganz unerwartet und haben deshalb auch nicht seinen Verdacht erregt. Ob Ihnen die Informationen, die Sie bis jetzt erhalten haben, bei der Untersuchung weiterhelfen, kann ich nicht sagen.“
Im Laufe der letzten Sätze war Mannons Stimme so leise geworden, daß sich Lioren unbeholfen bis auf die Knie vorgebeugt hatte, um den Kopf näher an die Lippen des Terrestriers zu bringen. Ob die Informationen nützlich waren, wußte Lioren zwar nicht, aber durch sie hatte er zweifellos eine ganze Menge zum Nachdenken bekommen.
„Jedenfalls bin ich Ihnen äußerst dankbar, Doktor“, sagte er.
„So, nun habe ich Ihnen einen Gefallen getan, Oberstabsarzt. Sind Sie jetzt bereit, mir auch einen zu tun?“ erkundigte sich Mannon.
Ohne zu zögern, antwortete Lioren: „Nicht diesen.“
„Und wenn ich mich. ab jetzt weigere, mit Ihnen zusammenzuarbeiten?“ fragte Mannon mit einer Stimme, die von seinen Lippen aus nur wenige Zentimeter weit zu hören war. „Oder mich wieder schlafend stelle? Oder wenn ich Seldal alles erzähle?“
Ihre Köpfe befanden sich mittlerweile so dicht beieinander, daß Lioren drei seiner Augen ausstrecken mußte, um den unglaublich ausgemergelten Körper des ehemaligen Diagnostikers in seiner ganzen Länge übersehen zu können. „Dann würde ich in eine peinliche Lage geraten, einiges Leid ertragen müssen und vielleicht bestraft werden“, entgegnete er. „Gegen die Strafe, die ich verdiene, wäre das alles nichts. Aber Sie leiden in einer Weise, die ich mir kaum vorstellen kann, und Sie haben es nicht verdient. Wie Sie selbst sagen, finden Sie weder Trost, wenn Sie sich in Gesellschaft von Freunden befinden, noch wenn Sie vor dem Tod noch einmal Ihr vergangenes Leben an sich vorüberziehen lassen. Es mag ja sein, daß Ihr vereinsamter Verstand entsetzlich für Sie ist, nicht weil er wirklich verlassen ist, sondern weil der einzige, der noch in ihm steckt, für Sie zum Fremden geworden ist; aber dieser Verstand ist ein wertvolles Hilfsmittel, das wertvollste Hilfsmittel, das Sie je besessen haben, und sollte nicht einfach durch ein frühzeitiges Ende vergeudet werden, sosehr Sie sich das auch wünschen. Sie sollten Ihren Verstand so lange wie möglich benutzen.“
Sanft strich ein langer Atemzug des Terrestriers über Liorens Gesicht,
und dann murmelte Mannon kraftlos: „Lioren, in Ihren Adern ffießt… Fischblut.“
Innerhalb weniger Minuten war er eingeschlafen, und Lioren befand sich auf dem Rückweg ins Büro. Da er mit den Gedanken mehr beim Patienten als beim sich ewig stellenden Problem war, heil und unversehrt durch die Korridore zu kommen, stieß er mehrmals mit anderen Lebensformen zusammen, wobei beide Seiten zum Glück jedesmal von Verletzungen verschont blieben.
Die letzten Stunden oder Tage eines emotional gequälten und todkranken Patienten benutzte er als Mittel, eine einfache, unwichtige und überhaupt nicht dringende Untersuchung voranzutreiben, als würde er sich eines x-beliebigen geeigneten Werkzeugs bedienen, das ihm zufällig in die Hände geraten war und es ihm ermöglichte, eine Arbeit fertigzustellen. Wenn er dabei das Werkzeug veränderte oder dessen Leistungsfähigkeit steigerte, spielte das keine besondere Rolle. Oder doch?
Lioren erinnerte sich daran, daß er auf Cromsag an der Lösung eines Problems beteiligt gewesen war. Auch damals hatte er die Lösung für wichtiger gehalten als die einzelnen Beteiligten, und durch seinen geistigen Stolz und seine Ungeduld war ein ganzer Planet entvölkert worden. Auf seinem Heimatplaneten Tarla hatten dieser Stolz und seine hohe Intelligenz eine Barriere dargestellt, die von niemandem durchbrochen werden konnte, und er hatte zwar Vorgesetzte und Untergebene und eine Familie gehabt, aber keine Freunde. Vielleicht war Mannons eigentümlich falsche physiologische Beschreibung, die Lioren zunächst einer geistigen Verwirrung durch die Überanstrengung zugeschrieben hatte, sogar richtig gewesen, und in seinen Adern floß tatsächlich Fischblut. Möglicherweise war sie aber auch nicht ganz korrekt.