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Lioren dachte an das ausgezehrte und kaum noch lebende Wesen, das er gerade verlassen hatte, an das bedauernswerte und zerbrechliche Werkzeug, das vorbildliche Arbeit leistete, und wunderte sich über die eigentümlichen Empfindungen von Schmerz und Traurigkeit, die in ihm aufstiegen.

Sollte seine erste Erfahrung mit Freundschaft genauso kurzlebig sein wie sein erster Freund?

Kaum hatte Lioren das Büro betreten, war ihm klar, daß etwas nicht stimmte, denn sowohl Cha Thrat als auch Braithwaite schnellten herum und starrten ihn an. Als erster ergriff der Terrestrier das Wort.

„O'Mara befindet sich gerade in einer Besprechung und darf auf keinen Fall gestört werden, und ich habe, ehrlich gesagt, keine Ahnung, wie ich Ihnen diese Nachricht beibringen soll“, sagte Braithwaite mit schneller, aufgeregter Stimme. „Verdammt, Lioren, man hat Ihnen doch aufgetragen, bei den Nachforschungen diskret vorzugehen! Was haben Sie über Ihren Auftrag verraten und wem? Wir haben gerade eine Nachricht von Chefarzt Seldal erhalten. Er will sich mit Ihnen im Versammlungsraum des nallajimischen Personals auf Ebene dreiundzwanzig treffen.“

Cha Thrat machte die sommaradvanische Geste, die tiefe Besorgnis ausdrückte, und fügte hinzu: „Und zwar sofort.“

12. Kapitel

Da die nallajimischen MSVKs oft Kollegen anderer Spezies einluden, war ihr Versammlungsraum zwar geräumig genug, um Lioren keine körperlichen Unannehmlichkeiten zu bereiten, dennoch wunderte er sich über die Wahl des Treffpunkts. Trotz ihres feingliedrigen Körperbaus und der geringen Schwerkraft, unter der sie lebte, konnte diese vogelartige Spezies ein ähnlich abweisendes Verhalten gegenüber einem Gesprächspartner an den Tag legen wie die Kelgianer, und falls Seldal wirklich einen Grund gefunden hatte, sich über Lioren zu beschweren, wäre die zu erwartende Vorgehensweise für den MSVK eigentlich die gewesen, in der psychologischen Abteilung zu erscheinen und ein Gespräch mit O'Mara zu verlangen.

Über eins bin ich mir trotzdem ganz sicher, dachte Lioren, als er zwischen den nestähnlichen Sofas, auf denen schlafende oder leise zwitschernde MSVKs lagen, auf Seldal zuging, der Grund für dieses Treffen ist kein geselliges Beisammensein.

„Setzen Sie sich oder bleiben Sie stehen, wie es gemütlicher für Sie ist“, begrüßte ihn der Chefarzt, wobei er einen Flügel hob, um auf den Essensspender des Liegesofas zu deuten. „Darf ich Ihnen etwas zu essen oder zu trinken anbieten?“

Es war ein Irrtum, sich über irgend etwas sicher zu sein, sagte sich Lioren, als er sich in die weichen Daunen des Sofas sinken ließ.

„Sie haben meine Neugier geweckt“, sagte der nallajimische Chefarzt, dessen schnelles Zwitschern einen unruhigen Hintergrund zu den langsameren tarlanischen Worten aus dem Translator bildete. „Allerdings interessiere ich mich weniger für den Vorfall auf Cromsag, denn der ist inzwischen allgemein bekannt, sondern vielmehr für Ihr Verhalten gegenüber meinem Patienten Mannon. Was genau haben Sie zu ihm gesagt, und was hat er umgekehrt Ihnen erzählt?“

Habe ich's nicht gleich gesagt? dachte Lioren. Dieses Treffen wird nicht lange ein geselliges Beisammensein bleiben.

Da er nicht lügen wollte, versuchte er sich zu entscheiden, ob es besser wäre, nicht die ganze Wahrheit zu sagen oder einfach zu schweigen, als der Nallajimer schon fortfuhr.

„Wie mir Hredlichi berichtet hat — und ich bediene mich ihrer Worte so genau, wie ich mich noch daran erinnern kann — , seien zwei von O'Maras psychologischen Mitarbeitern, nämlich Cha Thrat und Lioren — also Sie — mit der Bitte an sie herangetreten, eine Befragung der Patienten einschließlich des todkranken Mannon zu einigen geplanten Verbesserungen bezüglich des Ambientes der Station zu gestatten“, erklärte Seldal. „Hredlichi sagt, sie sei einerseits zu beschäftigt gewesen, um durch einen Streit mit Ihnen kostbare Zeit zu verschwenden, und andererseits seien Sie beide so groß und kräftig gewesen, so daß sie es gar nicht erst versucht habe, Sie mit körperlicher Gewalt zu entfernen. Deshalb habe sie sich entschlossen, bezüglich des Patienten Mannon zuzustimmen, da sie davon ausgegangen sei, daß der ehemalige Diagnostiker Sie genausowenig beachten würde wie alle anderen, die schon vorher versucht hatten, mit ihm zu sprechen. Doch laut Hredlichi haben Sie dann zwei Stunden beim Patienten verbracht, woraufhin dieser der Oberschwester gleich darauf mitgeteilt hat, daß Sie ihn von nun an jederzeit besuchen dürften.

Der ehemalige Diagnostiker Mannon wird im Orbit Hospital sehr geschätzt, und seine Dienstzeit in dieser Einrichtung wird nur noch von der O'Maras übertroffen, der sein Freund war und ist“, fuhr Seldal fort. „Als ich ans Hospital gekommen bin, ist Mannon der Ausbildungsleiter gewesen. Damals wie auch noch oft danach hat er mir sehr geholfen, weshalb er für mich ebenfalls mehr als nur ein Arztkollege ist. Doch bis gestern, als er meine Anwesenheit plötzlich zur Kenntnis genommen und angefangen hat, klare Fragen zu stellen, die zwar teils allgemein gehalten, häufiger jedoch persönlicher Natur gewesen sind, hatte er mit niemandem sprechen wollen, außer mit Ihnen.

Ich frage Sie nochmals, Lioren: Was hat sich zwischen Mannon und Ihnen abgespielt?“

„Mannon ist ein todkranker Patient“, antwortete Lioren, wobei er genau überlegte, was er sagte, „und einige der Worte und Gedanken, die er geäußert hat, passen vielleicht nicht zu dem Mannon, den Sie gekannt haben, als er sich noch auf dem Höhepunkt seiner körperlichen und geistigen Kräfte befand. Mir wäre es lieber, das Thema mit anderen nicht zu besprechen.“

„Ihnen wäre es lieber.“, begann Seldal. Sein aufgebrachtes Zwitschern wurde nun lauter, so daß sich die schlafenden Nallajimer ringsum unruhig in den Nestern bewegten. „Ach, behalten Sie Ihre Geheimnisse für sich, wenn Sie es unbedingt müssen. Wirklich, Sie erinnern mich an den verstorbenen Carmody, der vor Ihrer Zeit am Hospital gearbeitet hat. Und Sie haben recht, wenn ein solch großartiges Wesen wie dieser Mannon Schwäche zeigen sollte, würde ich das lieber gar nicht wissen wollen, obwohl ich mein Gehirn einmal mit einem terrestrischen DBDG geteilt habe, der der Auffassung war, daß man hin und wieder auch seine Schwächen zeigen müsse, um wahre Größe zu beweisen.“

„Danke für Ihre Nachsicht, Sir“, sagte Lioren.

„Nachsicht habe ich von einem sehr engen Freund gelernt“, entgegnete der Chefarzt. „Das werde ich Ihnen jetzt nicht näher erläutern. Statt dessen will Ihnen lieber verraten, was sich meiner Meinung nach zwischen Ihnen und Mannon abgespielt hat.“

Für den Tarlaner stellte es eine große Erleichterung dar, daß Seldal nicht mehr verärgert war und anscheinend glaubte, nicht er selbst wäre der Gegenstand von Liorens Untersuchungen, sondern Mannon. Als der Nallajimer fortfuhr, fragte sich Lioren, ob die Bemerkung, von einem sehr engen Freund Nachsicht gelernt zu haben, eine wichtige Einzelheit darstellte.

„Nachdem Mannon bei Ihrem ersten Besuch herausgefunden hatte, wer Sie eigentlich sind, muß er zu dem Schluß gekommen sein, daß Sie womöglich mehr Probleme haben als er selbst, und ist entsprechend neugierig geworden“, fuhr Seldal fort. „Diese Neugier muß zu persönlichen Fragen nach dem Vorfall auf Cromsag geführt haben, die für Sie schmerzlich gewesen sind, aber dafür war Mannon zum erstenmal seit mehreren Wochen überhaupt auf irgendwas neugierig. Inzwischen scheint sogar alles seine Neugier zu erregen. Er hat mit mir über Sie gesprochen und mich eingehend nach Ihnen befragt, sich nach meinen anderen Patienten erkundigt und sogar nach dem neuesten Hospitalklatsch, einfach nach allem. Für die deutliche Verbesserung seines Zustands, zu der Ihre Besuche geführt haben, bin ich Ihnen äußerst dankbar, Lioren.“