Dennoch hatten sie keine Einwände dagegen erhoben, aus dem Raum beobachtet zu werden, so daß man sich die Einzelheiten über ihre physiologische Klassifikation und die Umweltbedingungen ihres Lebensraums durch die weitreichenden Sensoren eines Vermessungsschiffs im Orbit hatte beschaffen können, und das waren die einzigen Kenntnisse, die man jetzt von ihnen besaß.
Bei den Groalterri handelte es sich um die größte der bislang entdeckten intelligenten Großlebensformen, um eine warmblütige, sauerstoffatmende und amphibische Spezies der physiologischen Klassifikation FLSU, bei deren Mitgliedern das Wachstum des Körpers von der parthenogenetischen Geburt bis zum Ende der äußerst langen Lebensspanne nicht aufhörte. Genau wie andere übermäßig große intelligente oder nichtintelligente Lebensformen hatten sie Schwierigkeiten, sich ohne Hilfe fortzubewegen, weshalb sie vom jungen Erwachsenenalter an potentiell tödliche Verformungen des Körpers durch die Gravitation vermieden, indem sie in Privatseen oder kommunalen Binnenmeeren schwammen oder trieben, von denen viele künstlich angelegt worden waren und die sich auf einem biotechnologischen Stand befanden, der weit über das Verständnis der Beobachter hinausging.
Ein weiteres Merkmal, das die Groalterri mit vielen großen Lebensformen gemeinsam hatten — der Bibliothekscomputer führte als Beispiele die nichtintelligenten Yerrits von Traltha und die Pandas von der Erde an — , war, daß wegen der Winzigkeit des Embryos eine Schwangerschaft oftmals nicht vermutet wurde, sondern sich erst durch die Geburt offenbarte. Trotz der gewaltigen Körpergröße und der hohen Intelligenz erwachsener Groalterri waren ihre Nachkommen relativ klein, benahmen sich sehr unzivilisiert und blieben bis ins frühe Erwachsenenalter so.
Das ist also einer der Gründe, weshalb die Krankenwärter aus den unter hoher Schwerkraft lebenden tralthanischen FGLIs und hudlarischen FROBs ausgewählt wurden, dachte Lioren, als er sich auf den ersten leibhaftigen Anblick des Patienten vorbereitete. Der Grund für die Anwesenheit des jungen FLSU im Hospital war, daß die Föderation den bislang als unnahbar geltenden Groalterri einen Gefallen tun wollte — wahrscheinlich in der Hoffnung, ihn eines Tages vergolten zu bekommen — , und deshalb ein Transportschiff des Monitorkorps entsandt hatte, um den schwerverletzten jungen FLSU zur Behandlung ins Orbit Hospital zu bringen. Auf der Geheimhaltung hatte das Korps bestanden, um politische und berufliche Unannehmlichkeiten im Todesfall des Patienten auf ein Mindestmaß zu reduzieren.
Den Eingang der Station, ein umgebautes Unfalldock, bewachten zwei unbewaffnete, aber sehr große Terrestrier vom Monitorkorps, um Unbefugte abzuschrecken und diejenigen, die über eine Besuchserlaubnis verfügten, anzuweisen, schwere Raumanzüge anzulegen. Zwar seien Atmosphäre und Druck auf der Station für die meisten warmblütigen Sauerstoffatmer geeignet, erklärten die beiden Terrestrier Lioren, aber der Anzug könne ihn davor schützen, vom Patienten versehentlich getötet zu werden.
In seinem gegenwärtigen Gemütszustand hielt Lioren die Gelegenheit, durch fremde Hand ums Leben zu kommen, für ein äußerst wünschenswertes Schicksal, die Anweisung der Korpsangehörigen befolgte er jedoch widerspruchslos.
Obwohl ihn Seldals Aufzeichnungen auf die Körpermasse und den Umfang des jungen FLSU vorbereitet hatten, war allein die bloße Größe des Patienten schon ein Schock für ihn, und die Vorstellung, ein erwachsener Groalterri könne noch viele hundertmal so groß werden, erschien seinem Verstand zu unglaublich, um sie als Wahrheit zu akzeptieren. Denn der Patient nahm mehr als drei Viertel des Rauminhalts des Docks ein und war so riesig, daß Lioren durch die sich daraus ergebende perspektivische Verzerrung nur einen Bruchteil der äußeren Merkmale des Körpers sehen konnte, bis er schließlich die Anzugdüsen zündete, um den gewaltigen Körper abzufegen.
Im Dock herrschte ständig Schwerelosigkeit, und die Bewegungsfreiheit des Patienten wurde geringfügig durch ein Netz eingeschränkt, dessen Maschen groß genug waren, um die medizinische Untersuchung und Behandlung des FLSU zu ermöglichen. An den vier Wänden sowie an Decke und Boden des Docks hatte man vom provisorisch eingerichteten Stationszimmer aus gesteuerte Traktor- und Pressorstrahlenprojektoren in Position gebracht, die den Patienten mit ihren breitgefächerten Strahlen in der Schwebe hielten und nicht mit den Wänden in Berührung kommen ließen.
Wie Lioren sah, ähnelte die äußere Gestalt des FLSU einem flachen Oktopoden mit kurzen, dicken, tentakelartigen Gliedmaßen, einem Zentralkörper und einem Kopf, der unverhältnismäßig groß erschien. Vier der acht Tentakel endeten in Klauen, die sich erst mit dem Eintritt ins Erwachsenenalter zu Fingern entwickeln würden, mit denen der FLSU Gegenstände handhaben konnte, während die übrigen vier in flache, längliche, scharfkantige Knochenplatten ausliefen, die zweimal so lang wie Liorens mittlere Arme waren.
Wie Seldal ihn vorgewarnt hatte, seien diese mit knöchernen Spitzen versehenen Extremitäten der Groalterri in den Zeiten vor der Entwicklung von Intelligenz furchteinflößende natürliche Waffen gewesen, und wie bei jeder Spezies könnten die ganz jungen Mitglieder manchmal vorübergehend wieder in die grausame Vergangenheit zurückfallen.
Ein zweites Mal umkreiste Lioren den gewaltigen Körper, wobei er sich so weit vom Netz, das den Patienten umhüllte, entfernt hielt, wie es die Wände, die Decke und der Boden des Docks zuließen. Diesmal betrachtete er sowohl die aberhundert Narben, die von den Operationen zurückgeblieben waren, und die frisch verbundenen Wunden, als auch die infizierten, von Pusteln übersäten Stellen, die die Hälfte des oberen Körperbereichs bedeckten.
Dieses Leiden hatten tiefe Einstiche in das unter der Haut liegende Gewebe durch eine nichtintelligente, eierlegende Insektenart mit hartem Panzer hervorgerufen, die scheinbar gar nicht über die körperlichen Voraussetzungen verfügte, mit dem Stachel in solche Tiefen vorzudringen. Der Grund für diese vielen gewaltsamen Einstiche war jedoch unbekannt. Obwohl die Sprache der Groalterri im Übersetzungscomputer des Hospitals gespeichert war, hatte sich der Patient bisher geweigert, irgendwelche Auskünfte über sich selbst oder die Ursache seines Zustands zu erteilen.
Darum beendete Lioren den Rundflug um den Körper, indem er die Anzugdüsen abschaltete und sich treiben ließ, bis er schwerelos über der runden Schwellung schwebte, die der Kopf des FLSU war. Dort, genau in der Mitte über den vier Augen mit den kräftigen Lidern, die in gleichmäßigen Abständen rings um den Schädel angeordnet und momentan geschlossen waren, befand sich der straff gespannte Hautbereich, der dem Groalterri sowohl als Sprech- wie auch als Hörorgan diente.
Lioren gab einen leisen, unübersetzbaren Laut von sich und sagte dann: „Falls ich Sie durch meine Anwesenheit oder meine Worte belästige, möchte ich mich bei Ihnen entschuldigen, denn das ist nicht meine Absicht. Darf ich mit Ihnen sprechen?“
Lange Zeit kam keine Antwort; dann schob sich langsam der gewaltige Hautlappen über jenem Auge zurück, das sich Lioren am nächsten befand, und auf einmal blickte der Tarlaner in die Tiefen einer dunklen Transparenz, die immer weiterzugehen schien. Plötzlich spannte sich der Tentakel direkt unter ihm an, schlängelte sich nach oben und zerriß das Netz, in das der FLSU gewickelt war, mit einer Leichtigkeit, als wäre es das zerbrechliche Gebilde eines netzspinnenden Insekts gewesen. Die große Knochenplatte an der Spitze des Tentakels krachte direkt hinter Lioren gegen die Wand und hinterließ eine tiefe, blanke Furche im Metall, bevor sie wieder nach vorne schwang und so dicht an seinem Kopf vorbeizischte, daß er den Luftzug hinter dem geöffneten Visier deutlich spüren konnte.
„Noch so eine dumme, halborganische Maschine“, meinte der Patient, gerade als Lioren von einem stark gebündelten Traktorstrahl erfaßt und blitzschnell ins sichere Stationszimmer gesaugt wurde.