Inzwischen hatten sich Seldals Federn wieder wie eine glatte und schimmernde Decke um den Körper gelegt. „Sie haben meine Erlaubnis, die Besuche fortzusetzen. Und jetzt werden Sie hoffentlich nichts dagegen haben, wenn ich mich einmal mit meinem Patienten selbst unterhalte.“
„Wenn Sie ihm versichern, daß die Aufzeichnungsgeräte ausgeschaltet bleiben, wird er sich vielleicht mit Ihnen unterhalten“, riet ihm Lioren.
Als Seldal das Stationszimmer verließ, kehrte der hudlarische Pfleger auf seinen Posten an den Monitoren und Kontrollgeräten zurück und sagte mit leiser Stimme: „Bei allem Respekt, Lioren, das hudlarische Hörorgan ist äußerst empfindlich und kann nur lahmgelegt werden, wenn man einen dicken Schalldämpfer darüber stülpt. Doch konnte niemand ahnen, daß es auf dieser Station einen Bedarf an solchen Schalldämpfern gibt, und deshalb stand mir eben auch keiner zur Verfügung.“
„Haben Sie etwa alles gehört?“ empörte sich Lioren, der plötzlich zornig wurde, weil das Vertrauen des Patienten gebrochen worden war und das Gespräch, das Lioren vor Seldal geheimgehalten hatte, dem Chefarzt bald in allen Einzelheiten als Gerücht zu Ohren kommen würde. „Auch von dem Verbrechen, das der FLSU vor seiner Ankunft im Hospital begangen haben will?“
„Ich hatte die Anweisung, nichts zu hören“, antwortete der Hudlarer in ruhigem Ton, „deshalb habe ich auch nichts gehört und kann über das, was ich nicht gehört habe, mit niemand anderem sprechen als mit demjenigen, der mir verboten hat, etwas zu hören.“
„Danke, Pfleger“, sagte Lioren mit großer Erleichterung. Er warf einen kurzen Blick auf die Armbinde des Hudlarers, auf der sich nur die Zeichen des Hospitalpersonals und der Abteilung des FROBs befanden — denn beim Namen wurden Hudlarer nur von ihren Familienangehörigen oder von ihren zukünftigen Lebensgefährten genannt — , und prägte sie sich genau ein, damit er den Pfleger später wiedererkennen konnte. Dann fragte er: „Möchten Sie jetzt mit mir den einen oder anderen Aspekt meines Gesprächs mit dem Patienten erörtern, den Sie vielleicht nicht mitbekommen haben?“
„Bei allem Respekt, Lioren, aber ich würde lieber eine kleine Anmerkung machen, wenn Sie nichts dagegen haben“, entgegnete der Hudlarer zurückhaltend. „Offensichtlich gewinnen Sie nämlich das Vertrauen des Patienten mit beachtlicher Geschwindigkeit, indem Sie freimütig über sich selbst sprechen und ihn dadurch zu genau derselben Offenheit herausfordern.“
„Fahren Sie fort“, warf Lioren ein.
„Auf meinem Planeten und vermutlich auch bei der Mehrheit der Bevölkerung auf Ihrem Heimatplaneten Tarla würde das, was der FLSU als ̃̄„Sünde“ bezeichnet, keine Rolle spielen, weil wir glauben, daß unser Leben mit der Geburt beginnt und mit dem Tod endet, und weil wir nicht zwischen den Formen des Vergehens unterscheiden, die anscheinend dem Patienten zu schaffen machen. Doch was die Groalterri und auch viele andere Zivilisationen überall in der Föderation betrifft, wagen Sie sich auf ein gefährliches philosophisches Terrain.“
„Ich weiß“, sagte Lioren, während er sich zum Gehen wandte. „Das Ganze ist nicht mehr ein rein medizinisches Problem, und ich hoffe, einige der Antworten, die ich brauche, kann mir der Bibliothekscomputer geben. Wenigstens weiß ich schon, wie meine erste Frage lautet.“
Was ist der Unterschied zwischen einem Verbrechen und einer Sünde?
Als Lioren in die psychologische Abteilung zurückkehrte, teilte man ihm mit, daß sich O'Mara zwar wieder in seinem Büro befinde, aber Anweisung gegeben habe, keinesfalls gestört zu werden. Braithwaite und Cha Thrat wollten gerade Feierabend machen, doch die Sommaradvanerin zögerte noch, weil sie offenbar die Absicht hegte, den Tarlaner etwas zu fragen. Da sich Lioren nicht sicher war, wieviel er sagen durfte, bemühte er sich, die stumme Neugier Cha Thrats nicht zu beachten.
„Ich weiß, daß Sie sehr beunruhigt sind“, sagte die Sommaradvanerin und deutete plötzlich auf Liorens Bildschirm. „Sind Ihre Sorgen bereits so groß, daß Sie jetzt Trost suchen, indem Sie. Lioren, für eine Persönlichkeit, die in sich so ausgewogen ist wie die Ihre, ist das ein sehr uncharakteristisches und beunruhigendes Verhalten. Warum fordern Sie die ganzen Studienunterlagen über die Religionen der Föderation an?“
Lioren mußte eine kurze Pause machen, um sich seine Antwort zu überlegen, weil ihm plötzlich zu Bewußtsein gekommen war, daß er, seit er sich mit Seldal und seinen Patienten beschäftigte, viel mehr Zeit damit verbracht hatte, über die Probleme von Mannon und dem Groalterri nachzudenken als über die eigenen. Diese Erkenntnis war eine große Überraschung für ihn.
„Ich bin Ihnen für Ihre Besorgnis wirklich sehr dankbar“, antwortete er schließlich vorsichtig. „Mein Kummer ist aber seit unserem letzten Gespräch nicht größer geworden. Wie Sie bereits wissen, untersuche ich Seldals Verhalten, indem ich mit seinen Patienten spreche. Das Ganze ist nun aber in ethischer Hinsicht ziemlich kompliziert geworden, und zwar so sehr, daß ich mir nicht sicher bin, wieviel ich Ihnen darüber verraten darf. Religion spielt dabei auch eine gewisse Rolle. Doch das ist ein Gebiet, auf dem ich mich überhaupt nicht auskenne, und falls man mir Fragen dazu stellt, möchte ich mich nicht gerne in Verlegenheit bringen lassen.“
„Aber wer sollte Ihnen Fragen über Religion stellen, wo das doch ein Thema ist, das niemand im Hospital anschneiden soll?“ erkundigte sich Cha Thrat. „Das führt nur zu Auseinandersetzungen, die keiner gewinnen kann. Ist es vielleicht der todkranke Patient, Mannon, der Ihnen solche Fragen stellt? Falls er in dieser Richtung Hilfe benötigt, frage ich mich, ob er nicht lieber ein Mitglied seiner eigenen Spezies zu Rate ziehen sollte als Sie. Ihre Verschwiegenheit zu diesem Thema kann ich allerdings gut nachvollziehen.“
Jemanden falsche Schlußfolgerungen ziehen zu lassen ist nicht dasselbe, wie zu lügen, dachte Lioren.
Cha Thrat machte eine Geste, deren Bedeutung Lioren nicht kannte, und fuhr fort: „Aus medizinischer Sicht würde ich sagen, daß Sie nicht nur völlig vergessen haben, etwas zu essen, sondern auch zu schlafen, Lioren. Die Unterlagen können Sie genausogut mit dem Computer in Ihrer Unterkunft abrufen. Was die verschiedenen Glaubensgemeinschaften der Terrestrier betrifft, kann ich Ihnen zwar nicht helfen, aber lassen Sie uns doch in die Kantine gehen, dort werde ich Ihnen dann von den verschiedenen Religionen erzählen — es handelt sich insgesamt um fünf — , die es auf Sommaradva gibt. Das ist ein Gebiet, auf dem ich mich bestens auskenne, wenngleich ich nur mit wenig Überzeugung davon sprechen kann.“
Während ihres gemeinsamen Essens, das sie nicht in der Kantine, sondern in Liorens Unterkunft einnahmen, und in dem sich daran anschließenden Gespräch drängte Cha Thrat zwar nicht auf Auskünfte, die der Tarlaner nicht geben wollte, doch hatte er es dafür bei seinem nächsten Besuch bei Mannon nicht mehr so leicht wie vorher.
„Verdammt noch mal, Lioren“, beklagte sich der ehemalige Diagnostiker, der nicht mehr unter Kurzatmigkeit zu leiden schien, „wie mir Seldal erzählt, haben Sie und der Groalterri sich unterhalten, und zwar länger, als es bisher sonst jemandem im Hospital gelungen ist, und dann sollen Sie sich geweigert haben, irgendwem etwas vom Inhalt des Gesprächs mitzuteilen. Und jetzt verlangen Sie indirekt von mir, daß ich Ihnen eine moralische Rechtfertigung für Ihr Schweigen verschaffe, ohne mir den Grund zu nennen, warum Sie nichts verraten wollen.
Was, um Himmels willen, geht hier eigentlich vor, Lioren?“ fragte er zum Schluß. „Die Neugier bringt mich noch um.“