„Fahren Sie fort“, forderte O'Mara ihn auf „Wie mir Hellishomar erzählt hat, setzt sich die Geschichte der Groalterri ausschließlich aus Erinnerungen zusammen, die über die Jahrhunderte hinweg weitergegeben wurden. Die Richtigkeit dieser mündlichen Überlieferungen hat er mir zwar versichert, aber archäologische Beweise zu ihrer Erhärtung sind nicht vorhanden. Folglich verfügt die groalterrische Kultur über keine Geschichte, die in die Zeit vor der Entwicklung von Intelligenz zurückreicht, und darum wird mein Bericht hauptsächlich auf Schlußfolgerungen und weniger auf Fakten beruhen.“
„Dann ziehen Sie endlich Ihre Schlußfolgerungen“, drängte O'Mara.
Auf dem von mineralarmen Meeren und Sümpfen bedeckten Planeten der Groalterri waren keine geschichtlichen Aufzeichnungen geführt worden, weil die Lebensspanne der FLSUs länger und ihre Erinnerungen klarer und zuverlässiger waren als alle auf Tierhäuten oder pflanzlichem Gewebe festgehaltenen Schriftzeichen, die lange vor dem Lebensende des Schreibers verblaßt oder verfault gewesen wären. Groalter war ein riesiger Planet, der seine kleine heiße Sonne in zweieinviertel terrestrischen Jahren einmal umkreiste, und eine der gewaltigen Lebensformen, die ihn bewohnten, hätte schon sehr krank gewesen sein oder wirklich Pech gehabt haben müssen, um nicht wenigstens fünfhundert dieser Umkreisungen zu erleben.
Erst mit dem Aufkommen der Technologie der Kleinen in jüngster Zeit — wobei ̃̄„jüngst“ im Sinne der groalterrischen Zeitmessung zu verstehen ist — waren geschichtliche Aufzeichnungen geführt und aufbewahrt worden. Diese Aufzeichnungen beruhten in erster Linie auf den Entdeckungen und Beobachtungen durch die wissenschaftlichen Stützpunkte, die trotz großer Schwierigkeiten und enormer Verluste bei den Kleinen unter den hohen Schwerkraftverhältnissen in den Polargebieten errichtet worden waren. Durch Groalters schnelle Rotation herrschte nur in jeweils einem breiten Streifen über und unter dem Äquator geringe Schwerkraft, wo die weit ausgedehnten und bewohnten Meere und Sümpfe durch den großen Mond des Planeten und die mit ihm verbundenen Gezeiten in ständiger Bewegung gehalten wurden. Aufgrund dieses fortwährenden Wechsels von Ebbe und Flut waren die wenigen äquatorialen Landmassen Groalters schon vor langer Zeit abgetragen worden.
Mit der Zeit — die selbst nach groalterrischen Maßstäben lang war — würde die Bahn des großen, unbewohnten Mondes immer enger werden, bis schließlich er und sein Mutterplanet miteinander kollidieren und sich gegenseitig zerstören würden.
In technologischer Hinsicht machten die Kleinen solche Fortschritte, wie es ihnen in ihrer unbeständigen Umwelt möglich war. Und jeden Tag in ihrem jungen Leben versuchten sie, das animalische Wesen, das in ihnen steckte, zu bekämpfen, damit sie schneller die geistige Reife der Eltern erreichten, die ihr langes Leben damit verbrachten, über bedeutende Dinge nachzudenken, während sie die Ressourcen des einzigen Planeten kontrollierten und bewahrten, den sie aufgrund ihrer gewaltigen Größe jemals kennenlernen konnten.
„Folglich gibt es auf Groalter zwei verschiedene Kulturen“, setzte Lioren seine Ausführungen fort. „Da sind einerseits die sogenannten Kleinen, zu denen auch unser riesiger Patient gehört, und andererseits die Eltern, von denen selbst die eigenen Nachkommen nur wenig wissen.“
In ihrem ersten groalterrischen Lebensjahr wurden die Kleinen gezwungen, die Eltern zu verlassen, um von etwas älteren Nachkommen betreut und erzogen zu werden. Diese scheinbar grausame Maßnahme war nötig, um das geistig-seelische Wohlbefinden und das zukünftige Überleben der Eltern zu garantieren, da die Kleinen von ihnen für wenig mehr als wilde Tiere gehalten wurden, deren Denkweise und Verhalten von den Erwachsenen als unerträglich abstoßend empfunden wurde.
Obwohl die Eltern die ungestümen, nur für Unruhe sorgenden Nachkommen nicht in ihrer Nähe ertragen konnten, liebten sie diese doch von ganzem Herzen und wachten aus der Ferne über ihr Wohlergehen.
Doch verglichen mit dem Intelligenzgrad und dem Sozialverhalten der durchschnittlichen Mitgliedspezies der Föderation war der Verstand eines kleinen Groalterri weder als primitiv noch als dumm zu bezeichnen. Viele tausend terrestrische Jahre lang, während ihrer langen Wartezeit zwischen der Geburt und dem Eintritt ins Erwachsenenalter, waren sie allein für die Entwicklung von Naturwissenschaft und Technologie auf Groalterri verantwortlich gewesen. In dieser Zeit kam es zwischen ihnen und den Eltern zu keinerlei Kommunikation, und die körperlichen Kontakte waren unglaublich gewaltsam und ausschließlich auf chirurgische Eingriffe beschränkt, die darauf abzielten, das Leben der Eltern zu verlängern.
„Dieses Verhalten liegt außerhalb meines Erfahrungsbereichs“, fuhr Lioren fort. „Offensichtlich schätzen die Kleinen die Eltern. Sie respektieren sie, gehorchen ihnen und versuchen, ihnen so gut wie möglich zu helfen, doch die Eltern reagieren darauf auf keine andere Weise, als sich hin und wieder widerwillig einer Operation durch einen Kleinen zu unterziehen.
Die Kleinen bedienen sich gesprochener und geschriebener Sprache, wohingegen die Eltern über große, aber nicht genau angegebene Geisteskräfte verfügen sollen, zu denen auch weitreichende Telepathie gehört. Diese Fähigkeit setzen sie zum Gedankenaustausch untereinander und zur Überwachung und zur Erhaltung sämtlicher nichtintelligenter Lebewesen im groalterrischen Meer ein. Aus irgendeinem Grund wollen sie sich ihrer telepathischen Kräfte nicht bedienen, um sich mit ihren eigenen Nachkommen zu unterhalten oder, was das betrifft, mit den Kontaktspezialisten des Monitorkorps, die sich gegenwärtig in der Umlaufbahn um ihren Planeten befinden.
Ein solches Verhalten ist noch nie dagewesen und geht über mein Verständnis“, schloß Lioren hilflos.
O'Mara entblößte die Zähne. „Es geht über Ihr gegenwärtiges Verständnis. Dennoch ist Ihr Bericht für mich von großem Interesse und für die Kontaktspezialisten von noch beträchtlicherem Wert. Jetzt wissen wir zumindest etwas über die Groalterri, und das Korps wird seinem ehemaligen Oberstabsarzt dankbar und mit ihm zufrieden sein. Ich hingegen bin zwar beeindruckt, aber keineswegs zufrieden, weil der Bericht des rangniedrigsten Mitarbeiters meiner Abteilung, des Auszubildenden Lioren, weit davon entfernt ist, vollständig zu sein. Sie versuchen nämlich nach wie vor, wichtige Informationen vor mir zu verheimlichen.“
Zweifellos konnte der Chefpsychologe den Gesichtsausdruck und Tonfall bei einem Tarlaner sehr viel besser deuten als Lioren umgekehrt bei einem Terrestrier, der nun zur Abwechslung schwieg.
„Ich möchte Sie daran erinnern, daß es sich bei Hellishomar um einen Patienten handelt und diesem Hospital, zu dem nicht nur Sie, sondern auch Seldal und ich gehören, die Verantwortung dafür übertragen worden ist, sein gesundheitliches Problem zu lösen“, sagte O'Mara mit lauterer Stimme. „Zweifellos hat Seldal geahnt, daß dieses klinische Problem auch eine psychologische Komponente haben könnte. Er hat Sie gebeten, mit dem Patienten zu sprechen, da er die Erfolge Ihrer Gespräche mit Mannon gesehen hat und ihm klar gewesen ist, daß er sich nicht offiziell an mich wenden konnte, weil diese Abteilung nur für das psychische Wohlbefinden des Personals verantwortlich ist. Zwar mag das Orbit Hospital keine psychiatrische Klinik sein, doch handelt es sich bei diesem Hellishomar um einen sehr speziellen Fall. Schließlich ist er der erste Groalterri, mit dem wir, oder genauer gesagt, mit dem Sie jemals gesprochen haben. Ich möchte ihm genauso helfen wie Sie, und mit dem Herumdoktern an den Denkweisen fremder Spezies verfüge ich über größere Erfahrung als Sie. Mein Interesse an dem Fall ist rein beruflich, ebenso wie meine Neugier auf alle persönlichen Informationen, die er Ihnen vielleicht verraten hat — Informationen, die ich ausschließlich zu therapeutischen Zwecken benutzen und über die ich mit niemandem sprechen werde. Können Sie meinen Standpunkt verstehen?“
„Ja“, antwortete Lioren.