Als Lioren die Tragweite dessen, was der Groalterri gerade gesagt hatte, begriff, wurde er von einer Woge des Mitgefühls ergriffen, und gleichzeitig stieg in ihm wachsende Aufregung auf, da er kurz davor stand, Hellishomars Problem voll und ganz zu verstehen. Er erinnerte sich an Seldals Beschreibung des Gesundheitszustands des Patienten und an Hellishomars beharrliche Beteuerung, die Kleinen seien gegen Krankheiten immun. Jetzt kannte er die schwere Sünde, die Hellishomar begangen hatte, weil Lioren selbst drauf und dran gewesen war, sie zu begehen.
Er wünschte, er fände eine Möglichkeit, wie er dieses schwer geplagte Wesen trösten oder dessen innere Qualen lindern könnte, die ihm durch das Wissen bereitet wurden, inmitten der eigenen hochintelligenten Art geistig zurückgeblieben zu sein. Das war nämlich der Grund gewesen, weshalb sich Hellishomar das Leben hatte nehmen wollen.
„Wenn die Eltern normalerweise nur zu den Kiemen, die sich dem Erwachsenenalter nähern, eine geistige Verbindung aufnehmen und zu ihnen sprechen, damals aber zum erstenmal in Kontakt zu einem außerplanetarischen Schiffskapitän getreten sind, weil sie gehofft haben, Ihre Verletzungen könnten erfolgreich behandelt werden, dann müssen Sie von ihnen äußerst geschätzt, vielleicht sogar sehr geliebt werden“, sagte er in freundlichem Ton. „Der Grund, weshalb die Eltern nicht zu Ihnen sprechen und Ihnen das sagen, ist der, daß Sie sie nicht hören können. Habe ich recht, Hellishomar?“
„Zu meiner Schande muß ich gestehen, daß Sie recht haben“, bestätigte Hellishomar.
„Möglicherweise wird ihr zukünftiges Leben gar nicht einsam sein“, fuhr Lioren fort, wobei er es sorgfältig vermied, Hellishomars andere Schande in irgendeiner Weise zu erwähnen. „Wenn die Kleinen aus Verlegenheit oder aus anderen Gründen nicht mit Ihnen sprechen und Sie die Worte der Eltern nicht hören können, dann gibt es andere, die liebend gern mit Ihnen reden, Ihnen zuhören und von Ihnen lernen wollen. Die Fremdweltler würden sich freuen, auf dem polaren Festland einen Stützpunkt zu errichten und ihn für Sie so gemütlich wie möglich zu gestalten. Falls die Eltern dies nicht erlauben, könnten Sie mit Kommunikationsgeräten ausgestattet werden, die den Sprechverkehr in beide Richtungen ermöglichen, der von der Umlaufbahn aus aufrechterhalten wird. Zugegebenermaßen wäre das nicht so befriedigend wie der unbeschränkte telepathische Kontakt mit den Eltern, doch die Fremdweltler und Sie selbst könnten sich gegenseitig viele Fragen stellen und beantworten. Denn deren Neugier auf die Groalterri ist genauso groß wie Ihre auf die Föderation, und sie zu stillen wird ziemlich lange dauern. Viele unserer großen Denker behaupten, für ein wahrhaft intelligentes Wesen sei die Befriedigung der Neugier das höchste und beständigste aller Vergnügen. Sie wären nicht allein, Hellishomar, und es gäbe eine Fülle von Dingen, mit denen Sie Ihren Verstand beschäftigen könnten.“
Obwohl Hellishomars Muskeln immer noch angespannt waren, geriet sein Körper unter und rings um Lioren in Bewegung.
„Ihre Verbindung zu den Fremdweltlern würde nicht nur aus bloßen Wortwechseln oder den mündlichen Fragen, Antworten und Beschreibungen bestehen, die wir beide uns gegenseitig gestellt beziehungsweise gegeben haben“, fuhr Lioren schnell fort. „Wenn Sie wieder gesund sind, wird man Ihnen Großbildgeräte zur Verfügung stellen. Die Bilder werden dreidimensional und durchgehend farbig sein. Sie werden Ihnen nicht nur den physikalischen Aufbau der Galaxis zeigen, in der wir leben, und den winzigen Bruchteil von ihr, der von den Spezies der Föderation bewohnt wird, sondern Ihnen auch so detailliert, wie Sie wünschen, die Wissenschaften, die Kulturen und die Philosophien der vielen und völlig verschiedenen intelligenten Lebensformen vor Augen führen, die Mitglieder der galaktischen Föderation sind. Man könnte Vorkehrungen treffen, die es Ihnen ermöglichen, diese Lebensformen zu befragen und in optisch und akustisch realistischer Darstellung unter vielen dieser Spezies zu leben. Ihr Leben wäre zwar lang, Hellishomar, aber auch reich an Eindrücken und interessant, wodurch das Fehlen des geistigen Kontakts zu den Eltern nicht so.“
„Nein!“
Wieder pfiff die rasiermesserscharfe Knochenplatte an der Spitze einer der zum Operieren verwandten Tentakel an Liorens Kopf vorbei und krachte gegen die Wandverkleidung. Durch die Überraschung und Furcht war Lioren sowohl körperlich als auch geistig wie gelähmt, allerdings nur für einen Sekundenbruchteil. Noch bevor der metallische Nachhall verklungen war, sprach er bereits in eindringlichem Ton mit dem hudlarischen Pfleger im Stationszimmer und wies ihn an, ihn nicht aus der Station herauszuziehen. Hätte ihn Hellishomar mit der scharfen Knochenplatte wirklich treffen wollen, wäre er jetzt ein blutiger, zerstückelter Leichnam gewesen. Mühsam zwang sich Lioren, ruhig zu sprechen.
„Bin ich Ihnen zu nahe getreten?“ erkundigte er sich vorsichtig. „Ich verstehe das nicht. Wenn niemand sonst mit Ihnen reden will, warum lehnen Sie dann den Kontakt mit der Födera.“
„Hören Sie sofort auf, davon zu sprechen!“ schnitt ihm Hellishomar mit der lauten und monotonen Stimme von jemandem das Wort ab, der sich selbst nicht sprechen hören konnte. „Ich bin es nicht wert, und Sie verleiten mich zu einer noch größeren Sünde.“
Über diese plötzliche Veränderung im Verhalten des Groalterris war Lioren zwar zutiefst verwundert, doch entschloß er sich, über die verbalen Äußerungen und Umstände, die letztendlich zu dieser Reaktion geführt hatten, erst ein andermal ernsthafter nachzudenken. Er hoffte, das Sprechverbot bezog sich nur auf dieses eine, offenbar allzu heikle Thema, worum es sich dabei auch drehen mochte. Doch jetzt mußte er sich entschuldigen, ohne zu wissen wofür.
„Ich habe Sie gekränkt, Hellishomar, das ist nicht meine Absicht gewesen, und es tut mir aufrichtig leid. Mit welcher Äußerung habe ich Sie verletzt? Wir können über ein Thema Ihrer Wahl sprechen. Zum Beispiel über die Arbeit des Orbit Hospitals oder über die ständige Suche des Monitorkorps nach bewohnten Planeten in den unerforschten Regionen unserer Galaxis oder über wissenschaftliche Disziplinen, die in der Föderation ausgeübt werden und die man auf einem von Wasser bedeckten Planeten wie Groalter nicht kennt.“
Lioren brach mitten im Satz ab, da ihm Körper und Zunge gleichermaßen vor Angst erstarrten. Die rasiermesserscharfe Schneide einer Knochenplatte war auf ihn zugebraust und hatte erst Millimeter vor seinem Oberkörper und seinem Gesicht haltgemacht. Ein Stückchen höher, und sie hätte ihm zwei seiner Augenstiele abrasiert. Plötzlich drückte ihm die Knochenplatte mit der flachen Seite heftig gegen Kinn, Brust und Bauch und schob ihn beiseite. Hellishomars Tentakel entrollte sich weiter, bis er ganz ausgestreckt war, und die Knochenplatte wurde erst zurückgezogen, als sie Lioren in den Eingang zum Stationszimmer gedrängt hatte.
„Offiziell habe ich nichts gehört“, sagte der diensthabende hudlarische Pfleger, nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß Lioren unverletzt war, „aber inoffiziell würde ich sagen, der Patient möchte sich nicht mit Ihnen unterhalten.“
„Der Patient braucht Hilfe.“, begann Lioren.
Dann verstummte er, weil seine Gedanken den Worten weit vorauseilten. Aus dem letzten Gespräch mit Hellishomar entwickelte sich zusammen mit den Kenntnissen über die groalterrische Zivilisation, zu denen er bereits durch Erkundigungen oder Schlußfolgerungen gelangt war, vor seinem geistigen Auge ein Bild, das mit jeder Sekunde klarer wurde. Auf einmal wußte er, was mit und für Hellishomar getan werden mußte und auch mit denjenigen, die diese Aufgabe vollbringen konnten, obwohl ihm schwere moralische und ethische Bedenken kamen, die ihn sehr bedrückten. Dennoch war er sich sicher — oder zumindest so sicher, wie er es vor solch einem Vorhaben sein konnte — , daß er die Sache richtig anpacken würde. Aber das hatte er auch schon bei einer früheren Gelegenheit geglaubt, bei der er ebenfalls recht gehabt hatte und in seiner Selbstsicherheit stolz und ungeduldig gewesen war, was fast zum Tod der gesamten Bevölkerung eines Planeten geführt hatte. Die Verantwortung für die Vernichtung einer weiteren Planetenzivilisation wollte er nicht übernehmen, jedenfalls nicht allein, „.und ich ebenfalls“, beendete er den Satz.