18. Kapitel
Er traf Chefarzt Prilicla in der Kantine an, der mit seinen zwei langsam schlagenden schimmernden Flügelpaaren ruhig über der Tischplatte schwebte, während er eine gelbliche, fadenartige Substanz zu sich nahm, die auf dem Speisekartendisplay als terrestrische Spaghetti ausgewiesen wurde. Die Art und Weise, auf die der kleine Empath die Fäden vom Teller zog und seine zierlichen vorderen Greiforgane einsetzte, um sie zu einem feinen fortlaufenden Strang zusammenzuflechten, der langsam in seiner Eßöffnung verschwand, bot einen der faszinierendsten Anblicke, die Lioren jemals gesehen hatte.
Er wollte sich gerade dafür entschuldigen, Prilicla beim Essen zu stören, als er feststellte, daß aus einer anderen Öffnung des Empathen die melodischen, rollenden Schnalzlaute der cinrusskischen Sprache kamen.
„Freund Lioren“, begrüßte ihn Prilicla. „Wie ich spüren kann, haben Sie keinen Hunger und sind nicht einmal von meiner ungewöhnlichen Methode, im Fliegen zu essen, abgestoßen. Das bei Ihnen vorherrschende Gefühl, das wahrscheinlich auch die Ursache ist, weshalb Sie an mich herantreten, ist Neugier. Wie kann ich diese stillen?“
Bei cinrusskischen GLNOs handelte es sich um für Emotionen empfängliche Empathen, die gezwungen waren, mit allem, was in ihrer Macht stand, sicherzustellen, die emotionale Ausstrahlung der Wesen in ihrer näheren Umgebung so angenehm wie möglich zu gestalten, da sie ansonsten unter denselben unerfreulichen Gefühlen zu leiden gehabt hätten, die durch beispielsweise unfreundliches Verhalten bei den anderen Wesen verursacht worden wären. Folglich waren die Cinrussker in Worten und Taten stets freundlich und hilfsbereit. Priliclas Hinweis, daß es unnötig sei, Zeit mit Höflichkeitsfloskeln zu vergeuden, erleichterte Lioren trotzdem, und er war dem Cinrussker dafür dankbar.
„Ich bin auf Ihre empathischen Fähigkeiten schon sehr gespannt und insbesondere auf deren Ähnlichkeiten mit uneingeschränkter Telepathie“,
sagte er. „Dabei gilt mein spezielles Interesse den organischen Strukturen, den Nervenverbindungen, der Blutversorgung und den Funktionsmechanismen eines organischen Senders und Empfängers sowie den medizinischen Symptomen und den subjektiven Eindrücken des Telepathen, wenn diese Fähigkeiten versagen. Falls es gestattet ist, würde ich gern alle Telepathen befragen, die es beim Hospitalpersonal oder unter den Patienten gibt, oder auch Lebewesen wie Sie, die nicht ausschließlich auf die akustische Verständigung angewiesen sind. Bei dieser Angelegenheit handelt es sich eher um eine Art Privatvorhaben, und es fällt mir sehr schwer, mir Informationen zu diesem Thema zu beschaffen.“
„Das liegt daran, daß die vorhandenen Informationen spärlich und bisher zu spekulativ sind, um sie in die medizinische Bibliothek aufzunehmen“, erklärte ihm Prilicla. „Aber beruhigen Sie sich bitte, mein Freund. Die wachsende Besorgnis, die Sie empfinden, läßt darauf schließen, daß Sie Angst haben, andere könnten etwas von Ihrem Privatvorhaben erfahren. Ich versichere Ihnen, das wird meinerseits nicht ohne Ihre vorherige Erlaubnis geschehen. Aha, Sie fühlen sich bereits besser und ich mich natürlich auch. Jetzt werde ich Ihnen das wenige erzählen, das bekannt ist.“
Der scheinbar endlose Spaghettistrang verschwand, und der Teller war bereits in den Rückgabeschlitz gewandert, als der Cinrussker federleicht auf dem Tisch landete.
„Fliegen regt die Verdauung an“, sagte er. „Zunächst einmal sind Telepathie und Empathie zwei grundlegend verschiedene Fähigkeiten, mein Freund, obwohl ein Empath hin und wieder den Eindruck eines Telepathen erwecken kann, wenn die emotionale Ausstrahlung seines Gegenübers durch Äußerungen und Verhaltensweisen des betreffenden Wesens untermauert wird und der Empath selbst über einiges Hintergrundwissen verfügt. Im Gegensatz zur Telepathie handelt es sich bei der Empathie um keine seltene Fähigkeit. Die meisten intelligenten Spezies besitzen sie bis zu einem gewissen Grad, sonst hätten sie sich nie bis zur Zivilisation weiterentwickeln können. Viele glauben, über telepathische Fähigkeiten hätten zunächst alle Spezies verfügt, und erst mit der Entwicklung der genaueren gesprochenen und visuell reproduzierbaren Sprache seien diese Fähigkeiten in Vergessenheit geraten oder verkümmert. Uneingeschränkte Telepathie ist selten, und der telepathische Kontakt zwischen verschiedenen Spezies kommt so gut wie nie vor. Haben Sie schon einmal Erfahrung mit solch einer geistigen Verbindung gemacht?“
„Davon habe ich jedenfalls bislang noch nie etwas gemerkt“, antwortete Lioren.
„Gut, wenn dies nämlich der Fall gewesen wäre, hätten Sie bestimmt etwas davon gemerkt“, versicherte ihm der Empath.
Wie Lioren Priliclas weiteren Ausführungen entnehmen konnte, war uneingeschränkte Telepathie normalerweise nur zwischen Mitgliedern derselben Spezies möglich. Versuchte ein Telepath mit einem Nichttelepathen in Verbindung zu treten, hätte man die Stimulation der beim letzteren seit langem schlummernden Fähigkeit als Versuch eines Nachrichtenaustauschs zwischen zwei organischen Sendern und Empfängern beschreiben können, die schlichtweg nicht zusammenpaßten. Am Anfang waren die subjektiven Eindrücke des Nichttelepathen alles andere als angenehm.
Momentan befanden sich Vertreter dreier telepathischer Spezies im Hospital, die allesamt zu den Patienten zählten. Die Lebensform namens ̃̄„Telfi“ gehörte zur physiologischen Klassifikation VTXM. Bei ihr handelte es sich um eine Spezies mit käferähnlichem Körper, die sich durch die direkte Umwandlung harter Strahlung ernährte und bei der die Artgenossen ihre Gehirne zu einem Gruppenverstand zusammenschlossen. Obwohl die einzelnen VTXMs ziemlich dumm waren, verfügten die zu einer Einheit, der sogenannten Gestalt, zusammengeschlossenen Individuen über eine hohe Intelligenz. Den extrem heißen Metabolismus dieser Spezies eingehend zu untersuchen, bedeutete, den Tod durch Strahlenschäden zu riskieren.
Der Zugang zu den übrigen telepathischen Lebensformen war eingeschränkt. Bei ihnen handelte es sich um die gogleskanische Ärztin Khone und ihren jüngsten Nachkommen sowie um zwei Beschützer von Ungeborenen, die sich alle zur medizinischen und psychologischen Untersuchung durch Diagnostiker Conway, Chefpsychologe O'Mara und Prilicla selbst am Orbit Hospital aufhielten.
„Conway hat nicht nur chirurgische Erfahrungen mit diesen beiden Lebensformen gesammelt, sondern ist auch erfolgreich mit ihnen in Kontakt getreten, obwohl dieses Ereignis noch nicht lange genug zurückliegt und zu extrem verlaufen ist, um bereits Eingang in die Literatur gefunden zu haben“, fuhr der Empath fort. „Auch Ihre Kollegin Cha Thrat ist schon mit Khone in Berührung gekommen und hat ihr geholfen, das Kind zur Welt zu bringen. Sie würden sich Zeit und Mühe sparen, wenn Sie sich einfach mit diesen Wesen unterhalten oder darum bitten würden, daß Ihnen die relevanten medizinischen Aufzeichnungen zugänglich gemacht werden. Tut mir leid, mein Freund. Durch die Stärke Ihrer emotionalen Ausstrahlung ist mir klar, daß mein Vorschlag für Sie keine Hilfe gewesen ist.“
Prilicla zitterte, als würden sein zerbrechlich wirkender Körper und die bleistiftdünnen Beine von einem kräftigen Wind durchgeschüttelt, den nur er wahrnehmen konnte. Doch in Wirklichkeit handelte es sich um einen Gefühlssturm, den Lioren ausgelöst hatte, und deshalb bemühte sich der Tarlaner, seine Gefühle zu beherrschen, bis der Körper des Empathen schließlich wieder zur Ruhe gekommen war.
„Ich bin es, der sich entschuldigen muß, Ihnen Unbehagen bereitet zu haben“, sagte Lioren. „Sie haben völlig recht; ich habe triftige persönliche Gründe, die anderen Mitarbeiter meiner Abteilung nicht in diese Sache hineinzuziehen, zumindest so lange nicht, bis ich genügend weiß, um mit ihnen zu sprechen, ohne ihre Zeit unnötig in Anspruch zu nehmen. Aber ich würde für mein Leben gern die medizinischen Aufzeichnungen des Diagnostikers lesen und die Patienten besuchen, die Sie erwähnt haben.“