„Ihre Neugier kann ich zwar spüren, mein Freund“, sagte Prilicla, „aber natürlich nicht die Gründe dafür. Ich vermute, das Ganze hat irgendwas mit dem groalterrischen Patienten zu tun.“
Der Cinrussker machte eine Pause, und wieder zitterte sein Körper, aber nur einen Augenblick lang. „Die Kontrolle über Ihre emotionale Ausstrahlung verbessert sich allmählich, und dazu möchte ich Ihnen gratulieren und mich bei Ihnen bedanken, mein Freund. Doch für Ihre innerliche Angst besteht überhaupt kein Grund. Zwar weiß ich, daß Sie irgend etwas vor mir verheimlichen, aber da ich kein Telepath bin, habe ich keine Ahnung, worum es sich dabei handelt. Meine Vermutungen werde ich niemandem gegenüber aussprechen, damit ich Sie keiner emotionalen Belastung aussetze, zumal diese nur auf mich selbst zurückfallen würde.“
Dankbar und beruhigt entspannte sich Lioren, da er wußte, daß er seine Gefühle bei diesem Wesen nicht in Worte zu fassen brauchte. Doch der Empath war mit seinen Ausführungen noch nicht am Ende.
„Wie allgemein bekannt ist, sind Sie der einzige im ganzen Hospital, der offen mit Hellishomar gesprochen hat“, fuhr Prilicla fort. „Da meine empathischen Fähigkeiten durch das Gesetz der umgekehrten Proportion zum Quadrat der Entfernung bestimmt sind, nimmt ihre Empfindlichkeit mit der Nähe zu demjenigen zu, von dem die Emotionen ausgehen. Ich habe es bewußt vermieden, mich dem Groalterri zu nähern, weil es sich bei Hellishomar um ein zutiefst betrübtes und äußerst unglückliches Wesen handelt, das von Schuld, Leid und Schmerz erfüllt ist und eine so starke emotionale Ausstrahlung hat, daß es im Hospital keinen Ort gibt, an den ich vor diesen furchtbaren und ständig anhaltenden Gefühlen fliehen kann. Seit Sie jedoch begonnen haben, Hellishomar zu besuchen, ist die Stärke dieser quälenden emotionalen Ausstrahlung merklich zurückgegangen, und dafür bin ich Ihnen wirklich sehr dankbar, mein Freund.
Immer, wenn Hellishomars Name erwähnt wird, nehme ich an Ihnen eine Empfindung wahr, die einer starken Hoffnung näherkommt als einer Erwartung“, fuhr der Empath fort, bevor Lioren etwas sagen konnte. „Am stärksten war diese Emotion, als wir über Telepathie gesprochen haben. Darum erhalten Sie von mir die Erlaubnis, die telepathischen Patienten zu besuchen. Zudem werden Ihnen Kopien der medizinischen Akten, die für Sie von Belang sind, zu Studienzwecken zur Verfügung gestellt. Falls es Ihnen jetzt schon recht ist, werden wir gleich mit einem Besuch bei den Beschützern der Ungeborenen beginnen.“
Die vier schimmernden Flügel des Empathen begannen langsam zu schlagen, und er erhob sich anmutig vom Tisch in die Luft.
„Sie strahlen zwar ein heftiges Gefühl der Dankbarkeit aus“, stellte Prilicla fest, während er direkt über Liorens Kopf auf den Kantinenausgang zuflog, „aber diese Emotion ist nicht stark genug, um vor mir Ihre unterschwellige Besorgnis und das Mißtrauen zu verbergen. Was bedrückt Sie, mein Freund?“
Liorens erster Impuls war abzustreiten, daß ihn irgend etwas bedrückte, doch wäre ein solcher Versuch ungefähr das gleiche gewesen, als würden zwei Kelgianer versuchen, sich gegenseitig zu belügen; zumal seine innersten Gefühle für Prilicla genauso sichtbar waren wie das bewegliche Fell der Kelgianer. „Ich bin besorgt, weil es sich um Conways Patienten handelt“, antwortete er deshalb wahrheitsgemäß. „Und wenn Sie es mir ohne seine Erlaubnis gestatten, die beiden zu besuchen, könnten Sie Ärger bekommen. Außerdem bin ich mißtrauisch, weil ich den Verdacht habe, Conway könnte Ihnen diese Erlaubnis bereits erteilt haben, und Sie sagen mir aus irgendeinem Grund nicht, weshalb.“
„Ihre Besorgnis ist unbegründet, Ihr Verdacht trifft jedoch zu“, klärte ihn Prilicla auf. „Conway wollte Sie nämlich sowieso demnächst darum bitten, diese Patienten zu besuchen. Die sind zur genauen Beobachtung und Untersuchung hier, was die Patienten wie eine Gefängnisstrafe von unbekannter Dauer empfinden. Sie verhalten sich zwar kooperativ, sind aber nicht glücklich und vermissen ihre Heimatplaneten. Wir wissen von zwei Patienten, Mannon und Hellishomar, die von den Gesprächen mit Ihnen profitiert haben, und Freund Conway meinte — und entschuldigen Sie, falls ich jetzt Ihre Gefühle verletze — , wenn ein Besuch- on Ihnen bei seinen Patienten möglicherweise auch nichts nützen würde, so könnte er jedenfalls auch nichts schaden.
Ich habe keine Ahnung, was Sie zu Mannon und Hellishomar gesagt haben, und den Gerüchten zufolge wollten Sie nicht einmal O'Mara verraten, wie Sie Ihre Erfolge erzielt haben“, fuhr der Empath fort. „Nach meiner eigenen Theorie bedienen Sie sich der Technik der Umkehrung, bei der nicht der Arzt dem Patienten Mitgefühl entgegenbringt, sondern das Gegenteil eintritt, und setzen von dort aus Ihre Arbeit fort. Hin und wieder habe ich diese Technik selbst eingesetzt. Da ich zerbrechlich wirke und für Emotionen außerordentlich empfänglich bin, neigen andere dazu, mich zu unrecht zu bedauern und mir, wie Conway es ausdrückt, allerhand durchgehen zu lassen. Sie hingegen können den Patienten wirklich leid tun, mein Freund, weil Sie.“
Als die furchtbaren Erinnerungen an einen entvölkerten Planeten auf Lioren einstürmten, wurde Priliclas Schwebefug für einen Augenblick alles andere als ruhig. Natürlich bedauerten alle Lioren, aber bestimmt nicht mehr als er sich selbst. Verzweifelt mühte er sich, diese Erinnerungen wieder in die sichere Ecke zu drängen, die er eigens für sie hergerichtet hatte und wo sie ihn nur im Schlaf beunruhigen konnten. Er schien damit Erfolg zu haben, denn der Cinrussker flog wieder ruhig und in gerader Linie.
„Sie haben Ihre Gefühle gut unter Kontrolle, mein Freund“, lobte ihn Prilicla prompt. „Zwar ist Ihre emotionale Ausstrahlung für mich auf kurze Entfernung immer noch unangenehm, aber längst nicht mehr so quälend wie während der Verhandlung vorm Militärgericht und danach. Das freut mich für uns beide. Unterwegs werde ich Ihnen von den ersten beiden Patienten erzählen.“
Der Beschützer der Ungeborenen gehörte zur physiologischen Klassifikation FSOJ. Es handelte sich bei ihm um ein riesiges, ungeheuer kräftiges Lebewesen mit einem starken geschlitzten Panzer, aus dem vier dicke Tentakel hervorragten, sowie mit einem schweren gezackten Schwanz und einem Kopf. Die Tentakel endeten in mehreren scharfen, knochigen Spitzen und ähnelten dadurch mit Nägeln versehenen Keulen. Die Hauptmerkmale des Kopfs bestanden in gut geschützten tiefliegenden Augen, dem gewaltigen Ober- und Unterkiefer sowie Zähnen, die imstande waren, mit Ausnahme der härtesten Metallegierungen wortwörtlich alles zu zermalmen.
Die Beschützer hatten sich in einer Welt aus flachen Meeren und dampfenden Urwaldsümpfen entwickelt, in der es, was körperliche Beweglichkeit und Angriffslust anging, keine eindeutige Grenze zwischen tierischem und pflanzlichem Leben gab. Um überhaupt zu überleben, mußte eine Lebensform ungeheuer kräftig, äußerst beweglich und ständig wach sein, und die dominante Spezies hatte sich auf diesem Planeten ihren Platz erobert, indem sie kämpfte, sich schneller fortbewegte und sich mit größerem Überlebenspotential vermehrte als sämtliche anderen Lebensformen.
Durch die brutalen Umweltbedingungen waren sie gezwungen, eine physiologische Form zu entwickeln, die den lebenswichtigen Organen größtmöglichen Schutz bot. Gehirn, Herz, Lunge und die stark vergrößerte Gebärmutter — sie alle befanden sich tief im Innern der organischen Kampfmaschine, die der Körper des Beschützers war. Die Schwangerschaft der FSOJs dehnte sich ungewöhnlich lange aus, weil der Embryo vor der Geburt praktisch bis zur Reife heranwachsen mußte. Ein alternder Elternteil war normalerweise zu schwach, um sich gegen den Angriff des Letztgeborenen zu verteidigen.