„Nein“, antwortete Lioren in bestimmtem Ton. „Intelligenz sollte nicht mit Bildung verwechselt werden. Der Tarlaner benötigt Fachinformationen, die zu erfahren die Gogleskanerin gar keine Möglichkeit gehabt hat; deshalb ist es nicht Intelligenz, was ihr fehlt. Ganz im Gegenteil. Hat die Ärztin weitere Fragen?“
„Nein“, antwortete Khone prompt. „Die Ärztin hat eine Bemerkung zu machen, zögert aber, weil sie fürchtet, den Tarlaner zu kränken.“
„Er wird der Gogleskanerin ihre Bemerkung nicht übelnehmen“, versicherte Lioren.
Khone richtete sich wieder zu voller Größe auf. „Der Tarlaner hat — wie viele andere vor ihm — bewiesen, daß geteiltes Leid halbes Leid ist, doch in diesem Fall scheint das geteilte Leid nicht gleich groß zu sein. Der Vorfall auf Cromsag, gegen den das Problem mit dem bösen Teufel von Goglesk bedeutungslos erscheint, ist zwar ausführlich geschildert worden, die Auswirkungen, die dieses Ereignis auf die dafür verantwortliche Person hat, jedoch nicht. Viel ist über die verschiedenen Glaubensrichtungen und die Götter — oder möglicherweise den einen Gott — anderer Spezies gesagt worden, aber kein einziges Wort über den eigenen Gott des Tarlaners. Vielleicht ist der Gott von Tarla etwas Besonderes, oder er ist einfach anders und verfügt nicht über das Verständnis und die erbarmungsvolle Gerechtigkeit für die wichtigsten Teile seiner Schöpfung. Erwartet er von seinen Geschöpfen, überhaupt kein Unrecht zu begehen, nicht einmal versehentlich? Die Entschuldigung für das Schweigen des Tarlaners, daß er den Glauben anderer nicht ungerechterweise durch seine umfassenderen Kenntnisse beeinflussen möchte, ist zwar löblich, aber fast ein wenig fade; denn sogar eine ungebildete Gogleskanerin weiß, daß ein Glaube nicht durch eine logische Beweisführung verändert werden kann, selbst der nicht, der durch Selbstzweifel abgeschwächt wurde. Und dennoch spricht der Tarlaner offen über den Glauben anderer, während er sich über den eigenen ausschweigt.
Vermutlich ist der Tarlaner wegen der Schuld an den Todesfällen unter den Cromsaggi zutiefst bekümmert, wobei seine Schuldgefühle noch verstärkt werden, weil ihm die Strafe, die er für dieses ungeheure Verbrechen für angemessen hält, ungerechterweise vorenthalten worden ist“, fuhr Khone fort, bevor Lioren etwas sagen konnte. „Vielleicht strebt er sowohl nach Bestrafung als auch nach Vergebung und glaubt nun, beides werde ihm versagt.“
Es war offensichtlich, daß Khone eine Möglichkeit zu finden versuchte, ihm zu helfen, doch bisher war ihre etwas langatmige Bemerkung weder verletzend noch hilfreich gewesen, und das aus dem einsichtigen Grund, daß Lioren schlichtweg nicht zu helfen war.
„Wenn der Schöpfer aller Dinge unversöhnlich ist oder der Tarlaner nicht an die Existenz dieses Schöpfers glaubt, kann er keine Vergebung erlangen“, fuhr Khone fort. „Oder anders ausgedrückt, wenn der Tarlaner an Gott oder — falls er ungläubig ist und eine nichtreligiöse Bezeichnung vorzieht — an das Gute glaubt, das in allen intelligenten Lebewesen ständig gegen das Böse kämpft, nicht aber an Vergebung, dann wird er natürlich auch nicht imstande sein, sich selbst zu vergeben. Der Vorfall auf Cromsag kann nicht ganz und gar vergessen werden, und die psychischen Wunden sind nicht vollständig zu heilen, doch das Unrecht muß vergeben werden, wenn die Qual des Tarlaners gelindert werden soll.
Deshalb rät und empfiehlt die Gogleskanerin dem Tarlaner dringend, die Vergebung von anderen zu erbitten“, beendete Khone ihre Ausführungen.
Doch ihre Bemerkung war nicht nur langatmig und in keiner Weise verletzend gewesen, sondern obendrein auch reine Zeitverschwendung. Lioren hatte Mühe, seine Ungeduld zu zügeln, als er fragte: „Von anderen Göttern, die moralisch weniger hohe Anforderungen stellen? Von wem denn genau?“
„Ist das nicht klar?“ fragte Khone in einem Ton, der nicht weniger Ungeduld verriet als Liorens. „Von den Wesen, denen so schweres Unrecht geschehen ist: von den überlebenden Cromsaggi!“
Einen Moment lang war Lioren durch diesen Vorschlag dermaßen schockiert und beleidigt, daß er kein Wort herausbekam. Er mußte sich ins Gedächtnis rufen, daß man die Zielscheibe des Spotts genau kennen muß, um einer Beleidigung Wirkung zu verleihen; Khones Beleidigung hingegen beruhte auf völliger Unwissenheit.
„Ausgeschlossen!“ widersprach er heftig. „Tarlaner entschuldigen sich nicht. Es ist zutiefst erniedrigend, wie die Tat eines ungezogenen Kinds, das versucht, den Unwillen eines Elternteils zu verringern oder zu vertreiben. Die geringen Verfehlungen von Kindern können von denjenigen vergeben werden, denen Unrecht geschehen ist, aber Tarlaner, erwachsene Tarlaner, nehmen die volle Verantwortung und die Strafe für jedes Verbrechen auf sich, das sie begangen haben, und würden weder sich selbst noch demjenigen, dem sie Unrecht zugefügt haben, durch eine Entschuldigung Schande machen. Übrigens sind die Patienten auf der Station für Cromsaggi geheilt und stehen eigentlich eher unter Beobachtung, als daß sie noch medizinisch behandelt werden müßten. Wahrscheinlich würden sie vor Haß wahnsinnig werden und mein Leben sofort beenden.“ „Ist das nicht genau das Los, das sich der Tarlaner gewünscht hat?“ hakte Khone nach. „Oder hat er seine Meinung diesbezüglich geändert?“
„Nein“, antwortete Lioren. „Ein zufälliger Tod würde alle Probleme lösen. Aber eine. eine Entschuldigung ist undenkbar!“
Einen Augenblick lang schwieg Khone; dann sagte sie: „Von der Gogleskanerin wird erwartet, daß sie die ihr durch die Evolution aufgezwungene geistig-seelische Ausrichtung durchbricht, in neuen Bahnen denkt und sich auf ganz andere Weise verhält. Vielleicht hält sie in ihrer Unwissenheit die Anstrengungen, die erforderlich sind, um das Böse in ihren Gedanken zu überwinden, für gering im Vergleich zu denen, die nötig sind, um sich bei einem anderen denkenden Wesen für einen gutgemeinten Fehler zu entschuldigen.“
Sie versuchen, zwei persönliche Übel miteinander zu vergleichen, dachte Lioren.
Auf einmal sah, hörte und spürte er Cromsaggi, die mitten in den schmutzigen Ruinen einer Zivilisation, die sie selbst zerstört hatten, miteinander kämpften, sich paarten oder starben. Er sah sie nach der exzessiven Selbstvernichtung, die seine überstürzte Behandlung heraufbeschworen hatte, hilflos in sterilen Betten auf medizinischen Stationen und übereinandergestürzt in leblosen Haufen liegen. Die Erinnerung an ihren Anblick, an ihre Stärke und an die enge Berührung mit ihnen brach wie eine haushohe Gefühlswelle über ihn herein, zu der auch der Eindruck gehörte, von einer ganzen Station voller Cromsaggi in Stücke gerissen zu werden, die versuchten, sich an ihm für den Tod ihrer Spezies zu rächen. Bei dem Wissen, daß sein Leben bald vorüber und seine Schuld beglichen sein würde, empfand er eine eigenartige Genugtuung und tiefen Frieden. Und dann zogen diejenigen Ereignisse vor seinem geistigen Auge auf, die in so einem Fall wahrscheinlich waren: Bilder von diensthabenden Schwestern und Pflegern, von unter hoher Schwerkraft lebenden Tralthanern oder Hudlarern, die die Groalterri bändigten und ihn retteten, bevor ihm etwas Ernsthaftes passieren konnte; und er stellte sich seine lange, einsame Genesungszeit vor, in der er sich mit nichts anderem würde beschäftigen können als mit den furchtbaren, unabwendbaren Erinnerungen an das, was er den Cromsaggi angetan hatte.
Khones Vorschlag war geradezu lächerlich. Das entsprach nicht dem Verhalten, das von einem ehrbaren Tarlaner erwartet wurde, der zu einer Gesellschaft gehörte, in der es in der Tat nur sehr wenigen an Ehrgefühl mangelte. Einen Fehler einzugestehen, der bereits allen in die Augen sprang, war überflüssig. Sich für einen Fehler in der Hoffnung zu entschuldigen, die angemessene Strafe abzumildern, war geradezu schändlich und feige und das Kennzeichen eines moralisch verdorbenen Geistes. Und anderen die innersten Gedanken und Gefühle zu offenbaren war unvorstellbar. Das war nicht tarlanische Art.