Wie ihm Khone gerade ins Gedächtnis zurückgerufen hatte, war es genausowenig gogleskanische Art, das Böse in den Gedanken zu bekämpfen oder den Körper von jemandem aus anderen Gründen zu berühren, als sich fortzupflanzen oder das Kind zu trösten. Und es gehörte sich auch nicht, ein anderes Wesen, bei dem es sich nicht um den Lebensgefährten, einen Elternteil oder Nachkommen handelte, anders als in der kürzesten und unpersönlichsten Form anzusprechen, doch all das versuchte Khone zu tun.
Allmählich änderte Khone ihre Lebensweise, genau wie der Beschützer der Ungeborenen. Die Veränderungen, die beide Spezies zu vollziehen hatten, waren für sie außerordentlich schwierig und erforderten eine ständige, gewaltige Willenskraft, doch im Gegensatz zu dem, was Khone Lioren vorgeschlagen hatte, handelte es sich dabei nicht um feige und moralisch verwerfliche Handlungen. Und plötzlich dachte er an Hellishomar, dessen Zustand sowohl der Grund für seine gegenwärtigen Nachforschungen über die telepathischen Fähigkeiten anderer Spezies als auch die Ursache für seinen momentanen psychischen Aufruhr war.
Auch der junge Groalterri kämpfte mit sich selbst. Entgegen all seinen natürlichen Instinkten, seiner Ausbildung als Messerheiler und den Lehren seiner fast unsterblichen Eltern hatte er sich verändert und gezwungen, etwas wirklich Verwerfliches zu tun.
Hellishomar hatte versucht, sich das Leben zu nehmen.
„Ich brauche Hilfe“, sagte Lioren.
„Das Bedürfnis nach Hilfe ist ein Eingeständnis persönlicher Unzulänglichkeit“, entgegnete Khone. „Bei jemandem, der stolz ist und über Ansehen verfügt, könnte das als erster Schritt zu einer Entschuldigung betrachtet werden. Leider bin ich nicht in der Lage zu helfen. Weißt du, wo oder von wem du diese Hilfe bekommen kannst?“
„Ich weiß, wen ich fragen muß“, antwortete Lioren und verstummte dann, als ihm schlagartig bewußt wurde, daß er und Khone beim letzten Wortwechsel völlig vergessen hatten, sich der unpersönlichen gogleskanischen Anredeform zu bedienen, und sich wie enge Verwandte miteinander unterhalten hatten. Was das bedeutete, wußte er nicht, und er wollte es nicht riskieren, Khone um Aufklärung zu bitten, denn die Gogleskanerin hätte ihn mißverstanden.
Aus Khones Äußerung ging klar hervor, daß sie angenommen hatte, er wünschte sich Hilfe bei seinen eigenen Problemen bezüglich des Vorfalls auf Cromsag, während er in Wirklichkeit dringend fachliche Unterstützung in Hellishomars Fall benötigte. Zuallererst mußte er O'Mara darum bitten, dann Conway, Thornnastor, Seldal und diejenigen, die sie sonst noch leisten konnten. Er gestand sich ein, daß er sich selbst nicht dafür eignete und der Versuch, das Problem durch die Befragung telepathischer Lebensformen im Alleingang zu lösen, nur ein Mittel gewesen war, um die eigene Eitelkeit zu besänftigen, und sich obendrein als unverzeihliche Zeitvergeudung entpuppt hatte.
Andere um Hilfe zu bitten — was notwendigerweise einen Mangel an Wissen und Können seinerseits verriet — war nicht tarlanische Art. Doch ihm war schon von vielen Mitarbeitern des Hospitals geholfen worden, oftmals, ohne von ihm darum gebeten worden zu sein, und er rechnete nicht damit, daß eine Wiederholung dieses schmachvollen Vorgangs bei ihm zu einem schweren seelischen Trauma führen würde.
Als er ein paar Minuten später Khones Station verließ, fragte sich Lioren, ob sich allmählich seine eigenen Denkgewohnheiten änderten. Natürlich nur ein klein bißchen.
22. Kapitel
Chefarzt Seldal war zugegen, weil er von Anfang an für Hellishomar verantwortlich gewesen war und über mehr medizinische Erfahrung mit dem Patienten verfügte als alle anderen, obwohl damit zu rechnen war, daß sich dies schon sehr bald ändern könnte. Der leitende Diagnostiker der Pathologie, der Tralthaner Thornnastor, und der gleichermaßen angesehene Terrestrier Conway, den man vor kurzem zum leitenden Diagnostiker der Chirurgie ernannt hatte, waren ebenfalls anwesend. Sie wollten nun herausfinden, weshalb Chefpsychologe O'Mara, der als einziger über genügend Einfluß verfügte, um kurzfristig ein Treffen auf derart hoher Ebene anzusetzen, es für erforderlich gehalten hatte, sie alle zusammenzurufen, um über einen Patienten zu sprechen, der sich angeblich schon ein gutes Stück auf dem Weg zu einer vollständigen Genesung befand.
Die Zusammenkunft erinnerte Lioren an die kürzliche Verhandlung vor dem Militärgericht, und auch wenn es sich bei der bevorstehenden Erörterung eher um medizinische als um juristische Fragen drehte, würde es, sobald es zum Kreuzverhör kam, seiner Ansicht nach sehr viel weniger freundlich zugehen. Als erster ergriff Seldal das Wort.
Indem er auf den großen medizinischen Bildschirm deutete, sagte er: „Wie Sie sehen können, ist der Patient mit einer großen Anzahl — beinahe dreihundert — Stichwunden eingeliefert worden, die sich gleichmäßig über den Rücken und die Seiten des Körpers sowie über den vorderen Bereich zwischen den Tentakeln verteilt haben, wo die Haut dünn ist und nur ein Mindestmaß an natürlichem Schutz bietet. Offenbar sind die Einstiche durch eine schnell fliegende, im Boden lebende Insektenart verursacht worden, die in die Wunden Eier gelegt und diese infiziert hat. Für die Behandlung dieses Leidens wurde die nallajimische Operationstechnik als die geeignetste Methode gehalten, und deshalb hat man die Operation mir übertragen. Wegen des ungewöhnlich großen Körpers des Patienten bin ich nur langsam vorangekommen, doch die Prognose ist gut, bis auf einen bedauerlichen Mangel an.“
„Doktor Seldal“, unterbrach ihn Thornnastor, dessen Stimme wie ein ungeduldiges, gedämpftes Nebelhorn klang. „Sie haben den Patienten doch bestimmt gefragt, wie er sich die Wunden zugezogen hat, oder?“
„Sicher, aber darüber hat mir der Patient keine Auskunft gegeben“, antwortete Seldal, wobei das schnelle Zwitschern seiner natürlichen Stimme unter der Übersetzung des Translators seine Verärgerung über die Unterbrechung widerspiegelte. „Ich hatte gerade sagen wollen, daß der Patient nur selten mit mir gesprochen hat und wenn, dann nie über sich selbst oder seinen Zustand.“
„Die Ausbreitung der Einstiche ist zu stark begrenzt, um an einen ziellosen Angriff eines Insektenschwarms denken zu lassen“, meldete sich Diagnostiker Conway erstmalig zu Wort. „Meiner Ansicht nach weisen die Winkel der Einstiche und der Umstand, daß sie auf einen deutlich abgegrenzten Bereich konzentriert sind, auf einen gemeinsamen Ausgangspunkt wie bei einer Explosion hin. Obwohl ich es auch für möglich halte, daß Hellishomar einen Insektenschwarm aufgescheucht hat und die Insekten dann über die Körperteile hergefallen sind, die ihnen am nächsten waren. Nach dem wenigen, was wir von der Spezies wissen, haben es die Groalterri schon immer abgelehnt, mit anderen Lebensformen zu sprechen, deshalb ist die Verschwiegenheit des Patienten vielleicht ärgerlich, aber nicht ungewöhnlich. Wir alle haben in der Vergangenheit schon des öfteren solch unkooperative Patienten behandeln müssen.“
„Während der Behandlung ist Hellishomar durchaus zur Mitarbeit bereit gewesen“, wandte Seldal ein. „Und wenn er etwas gesagt hat, ist er stets höflich und respektvoll gewesen, allerdings ohne ein Wort über sich selbst zu verlieren. Ich hatte geglaubt, sein Krankheitsbild hätte möglicherweise psychologische Hintergründe, und hatte deshalb Oberstabsarzt Lioren gebeten, sich mit dem Patienten zu unterhalten, weil ich gehofft.“
„Das ist doch wohl eine Angelegenheit für den Chefpsychologen“, schnitt ihm Thornnastor voller Ungeduld das Wort ab. „Was haben zwei vielbeschäftigte Diagnostiker hier überhaupt zu suchen?“