Doch jetzt“, sagte O'Mara, wobei er die Stimme ein wenig erhob, als wolle er diesen Punkt besonders hervorheben, „müssen wir ihm einen noch überzeugenderen Grund zu leben liefern, ob die Gehirnoperation nun erfolgreich verläuft oder nicht. Sie und — wenn die Umstände normal wären und es sich bei Ihnen nicht um einen derart dickköpfigen und selbstgerechten Auszubildenden handeln würde — auch ich als Ihr Vorgesetzter sollten versuchen, solch einen Grund ausfindig zu machen. Sie sind die einzige Kommunikationsverbindung zum Patienten, und es ist besser, wenn niemand anders, auch ich selbst nicht, versucht, diese Position an sich zu reißen. Doch ich muß Sie daran erinnern, daß ich der Chefpsychologe dieser eher als seltsam zu bezeichnenden und fürwahr außergewöhnlichen Einrichtung bin und über große Erfahrung darin verfüge, meine Nase in die Köpfe des noch seltsameren Personals zu stecken. Außerdem ist es mein Recht und Ihre Pflicht, mich immer voll auf dem laufenden zu halten, damit Sie bei Ihren Gesprächen mit dem Groalterri reichlichen Gebrauch von meiner Erfahrung machen können. Sollten Sie vorgeben, der Patient habe sich nicht umzubringen versucht, wäre ich von Ihnen sehr enttäuscht und würde mich entsprechend über Sie ärgern.
Und wie genau sieht nun dieses neue und noch ernstere Problem mit Hellishomar aus?“ fragte er schließlich.
Für einen Moment saß Lioren in der stillen Verzweiflung eines Hoffenden da und hatte Angst, die Frage zu beantworten, falls es keine Hoffnung gab — oder schlimmer noch, daß er die Lösung selbst finden müßte. Als er schließlich sprach, war das Gesicht des Chefpsychologen aus Ärger über Liorens Zögern schon ziemlich rot angelaufen.
„Das Problem bezieht sich auf mich“, gab Lioren zu. „Ich habe nämlich eine schwierige Entscheidung zu treffen.“
Mit nicht mehr ganz so stark gerötetem Gesicht lehnte sich O'Mara im Stuhl zurück. „Fahren Sie fort. Ist die Entscheidung für Sie schwierig, weil sie mit einem Vertrauensbruch gegenüber dem Patienten verbunden sein könnte?“
„Nein!“ widersprach Lioren in scharfem Ton. „Wie gesagt, das ist mein Problem. Vielleicht hätte ich Sie nicht um Rat fragen und das Risiko eingehen sollen, daß Sie es zu Ihrem machen.“
Der Chefpsychologe ließ keinerlei Anzeichen von Verärgerung über Liorens aufsässigen Ton erkennen. „Sobald wir Hellishomars Einwilligung in die Operation haben, sollte ich Ihnen vielleicht jeden weiteren Kontakt mit ihm verbieten. Zwei Lebewesen zusammenzubringen, die derart von Schuldgefühlen geplagt werden, daß sie beide nichts lieber täten, als sich selbst das Leben zu nehmen, stellt meiner Ansicht nach ein größeres Risiko dar, weil die Chancen, daß diese Begegnung vorteilhafte oder verheerende Folgen hat, vollkommen ausgeglichen sind. Bis jetzt ist es Ihnen gelungen, eine Katastrophe zu vermeiden. Bitte fangen Sie damit an, mir zu erklären, weshalb Sie glauben, es handle sich nicht um mein Problem, und gestatten Sie mir, die Risiken selbst einzuschätzen.“
„Aber dafür wäre eine lange Erläuterung des Problems selbst nötig“, wehrte sich Lioren. „Außerdem müßte ich noch Hintergrundinformationen geben, von denen der größte Teil spekulativ und wahrscheinlich falsch wäre.“
O'Mara hob eine Hand vom Tisch hoch und ließ sie wieder sinken. „Dann lassen Sie sich Zeit“, beruhigte er ihn.
Lioren begann damit, nochmals die seltsame, nach dem Alter aufgespaltene Zivilisation der Groalterri zu beschreiben, ließ sich jedoch keineswegs viel Zeit, weil er anfangs nur Fakten wiederholte, die bereits bekannt waren, und es sich bei O'Mara nicht gerade um einen Terrestrier handelte, der für seine Geduld berühmt war. Er berichtete, daß die Eltern aufgrund der ungeheuren Körpergröße und ungeahnter Fähigkeiten ihre Bevölkerungszahl kontrollierten, ohne deshalb jemanden umzubringen, und ihren Planeten samt der nichtintelligenten Tier- und Pflanzenwelt und den Bodenschätzen in optimalem Zustand hielten, da es sich bei ihnen um eine äußerst langlebige Spezies handelte und Groalter der einzige Planet war, den sie jemals besitzen würden. Auf Groalter war jedes Leben wertvoll, und intelligentes Leben sogar wirklich kostbar. Die Kontrollmechanismen, die Gesetze, die für jeden einzelnen Tag im unglaublich langen Leben eines Groalterris maßgebend sein sollten, wurden von den Eltern den noch nicht erwachsenen Groalterri beigebracht, die sie wiederum an die jüngeren Kleinen bis zu dem Alter weitergaben, in dem sie gerade zu denken und zu sprechen begannen. Diese Gesetze, die das ganze zukünftige Verhalten auf Groalter bestimmten, wurden nicht mit körperlicher Gewalt durchgesetzt, da alles darauf hindeutete, daß es sich bei den Groalterri um eine philosophisch fortschrittliche und gewaltlose Spezies handelte. Die Kleinen wurden, wenn sie noch sehr jung waren, durch gesprochene Sprache und später, wenn sie sich dem Erwachsenenalter näherten, durch Telepathie unterrichtet, und zwar dermaßen gründlich, daß der Vorgang eher einer starken Indoktrination glich. Die Schuldgefühle, die ein Gesetzesbrecher hatte, und die Strafe, die er sich selbst auferlegte, waren so schwer, wie sie nur für denjenigen möglich waren, dem eine Religion in der strengsten und umfassendsten Form eingebleut worden war.
„Diese Theorie wird durch die Tatsache erhärtet, daß Hellishomar mehrmals darauf hingewiesen hat, nicht ein ernsthaftes Verbrechen oder einen Verstoß begangen zu haben, sondern eine schwere Sünde“, fuhr Lioren fort. „Für die Groalterri ist die allerschwerste Sünde die absichtliche und vorzeitige Vernichtung von Leben. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um Unterlassungssünden oder begangene Sünden handelt oder ob das betreffende Leben ganz am Anfang oder kurz vorm Ende gestanden hat. Und wenn die Kleinen und ihre Eltern zutiefst religiös sind, wirft das in meinen Augen zwei weitere Fragen auf.
An was für einen Gott könnte eine Lebensform glauben, die selbst so gut wie unsterblich ist? Und was erhoffen und erwarten sie sich von einem Leben nach dem Tode?“
„Was ich mir erhoffe“, sagte O'Mara, wobei sich die buschigen Striche über den Augen senkten, „ist, daß Sie endlich zur Sache kommen. Wenn ich mir die Zeit dafür zugestehen würde, könnte aus diesem Gespräch eine interessante religiöse Debatte werden, doch bisher kann ich, was Sie betrifft, kein Problem erkennen.“
„Aber es gibt ein Problem“, stellte Lioren klar, „und das hängt sehr eng mit den religiösen Überzeugungen der Groalterri zusammen. Und, wie ich zu meiner Schande gestehen muß, auch mit mir.“
„Dann erklären Sie das und versuchen Sie, sich dafür weniger Zeit zu lassen“, ermahnte ihn O'Mara.
„Bei sämtlichen Religionen, mit denen ich mich vor kurzem befaßt habe, habe ich festgestellt, daß die jeweiligen Anhänger viele Überzeugungen teilen. Abgesehen von einigen wenigen, die geringfügig kürzer oder länger leben als wir, erfreuen sich alle eines Lebens, das wir als durchschnittlich lang betrachten.“
In den Zeiten vor der Zivilisation, als viele Religionen entstanden und das Denken ihrer Anhänger dahingehend prägten, den Nächsten und sein Eigentum zu achten — eine Einstellung, die die Grundlage jeden zivilisierten Verhaltens bildet — , hatten diese Lebewesen noch einfache Bedürfnisse und Erwartungen. Bis auf einige wenige, die die Macht an sich gerissen hatten, verbrachten sie ein unglückliches Leben, das aus unablässiger Plackerei bestand. Sie wurden von Hunger und Krankheiten geplagt und ständig von einem gewaltsamen und vorzeitigen Tod bedroht, und ihre Lebenserwartung lag weit unter dem heutigen Durchschnitt.