Das bedeutete allerdings nicht, daß Einheimische und Außerplanetarier zu Freunden wurden.
Lioren war sich sicher, daß er alles über die Cromsaggi wußte, außer wie ihr Verstand funktionierte. Durch die Leichen erst kurz zuvor gefallener DCSLs, die in den Kriegsgebieten liegen gelassen worden waren, hatte er ein vollständiges und genaues Bild von der Physiologie und dem Metabolismus der Spezies gewonnen. Dadurch wiederum war es möglich geworden, die Wunden der Cromsaggi mit zuverlässigen Medikamenten zu behandeln und den Krieg unrühmlich mit Schwaden von Betäubungsgas zu beenden. Das Aufklärungsschiff Tenelphi war als schnelles Kurierschiff eingespannt worden und flog zwischen Cromsag und dem Orbit Hospital hin und her. In der einen Richtung beförderte es tote DCSLs, die eingehender untersucht werden mußten, und in der anderen die Ergebnisse des Leiters der Pathologie, Thornnastor, der Liorens Hypothesen häufiger bestätigte als widerlegte.
Doch selbst für den Diagnostiker Thornnastor stellte es sich als äußerst schwierige Aufgabe heraus, die cromsaggische Krankheit zu isolieren und zu identifizieren. Für die Untersuchung wurden eher lebende als tote DCSLs benötigt, die nach Möglichkeit das gesamte Spektrum der Symptome vom ersten Auftreten bis kurz vor dem tödlichen Ausgang des Leidens abdeckten, und darum entsandte man die Rhabwar, das spezielle Ambulanzschiff des Hospitals, um sich in diesen verschiedenen Stadien erkrankte Cromsaggi zu beschaffen. Aber noch verwirrender als die Seuche selbst, der die Opfer stets erlagen, bevor sie ein mittleres Alter erreicht hatten, war ihre innere Einstellung dazu.
Zwar hatte sich ein an der Seuche Erkrankter bereit erklärt, mit Lioren über sich selbst zu sprechen, aber durch seine Äußerungen war die Verwirrung des Oberstabsarztes nur noch größer geworden. Vom Patienten kannte Lioren nur die Nummer der Krankenakte, denn die Cromsaggi betrachteten sowohl die mündliche als auch schriftliche Bezeichnung ihrer Identität als das allerwichtigste persönliche Eigentum, und obwohl dieser DCSL nicht mehr lange zu leben hatte, hätte er seinen Namen einem Fremden niemals preisgegeben. Als ihn Lioren fragte, warum viele der Cromsaggi die Außerplanetarier mit jeder Waffe angegriffen hätten, die ihnen in die Finger gekommen sei, sich untereinander aber ausschließlich mit Zähnen, Händen und Füßen bekämpften, antwortete der DCSL, daß es einem weder Ehre mache noch Nutzen bringe, ein Mitglied der eigenen Spezies zu töten, sofern es nicht mit großer Anstrengung und höchster Gefahr für das eigene Leben verbunden sei. Aus demselben Grund würden sie grundsätzlich davor haltmachen, einen schwerkranken, stark geschwächten oder bereits sterbenden Gegner umzubringen.
Ein anderes intelligentes Lebewesen zu ermorden war nach Liorens fester Überzeugung die unehrenhafteste Tat, die man sich überhaupt vorstellen konnte. Eigentlich hätte er in seiner Position die Ansichten anderer respektieren müssen, egal, wie seltsam und schockierend sie auch für jemanden mit seiner strengen tarlanischen Erziehung sein mochten, aber diesen Standpunkt der Cromsaggi konnte und wollte er nicht respektieren.
Um schnell das Thema zu wechseln, fragte er: „Warum werden die Verwundeten nach einem Kampf weggebracht? Um sie zu pflegen,
während die Toten unangetastet dort liegen bleiben, wo sie gefallen sind? Wie wir wissen, besitzt Ihre Spezies einige Kenntnisse über Medizin und Heilung. Weshalb lassen Sie die Toten also unbegraben liegen und riskieren die Ausbreitung weiterer Seuchen in Ihrer schon von Krankheit geplagten Bevölkerung? Wieso setzen Sie sich dieser vollkommen unnötigen Gefahr aus?“
Aufgrund der verheerenden Auswirkungen der Krankheit, die die gesamte Haut mit den blaßgelben Flecken überzogen hatte, war der Patient sehr geschwächt, und einen Augenblick lang fragte sich Lioren, ob der DCSL imstande war, ihm zu antworten, oder ob er die Fragen überhaupt gehört hatte.
Doch plötzlich entgegnete der Patient: „Eine verwesende Leiche stellt tatsächlich ein großes Gesundheitsrisiko für diejenigen dar, die nahe an ihr vorbeikommen. Die Gefahr und die Angst sind notwendig.“
„Aber warum?“ hakte Lioren nach. „Welchen Nutzen bringt es Ihnen, wenn Sie sich absichtlich angst machen, Schmerzen zufügen und sich einer Gefahr aussetzen?“
„Das gibt uns Kraft“, antwortete der Cromsaggi. „Eine Zeitlang, eine sehr kurze Zeit lang, fühlen wir uns wieder stark.“
„Wir werden dafür sorgen, daß Sie sich in kürzester Zeit auch ohne diese Kämpfe kräftig und stark fühlen“, beteuerte Lioren mit der Zuversicht eines Arztes, dem sämtliche Hilfsmittel der ärztlichen Wissenschaft der Föderation zur Verfügung standen. „Sie würden doch bestimmt lieber auf einem Planeten leben, auf dem es weder Krieg noch Krankheiten gibt, oder?“
Aus irgendeinem Teil seines geschwächten Körpers schien der Patient Kräfte zu sammeln, dann antwortete er: „So weit sich die Lebenden oder deren Vorfahren zurückerinnern können, hat es nie eine Zeit ohne Krieg und die Krankheit gegeben. Bei den Geschichten, die aus solchen Zeiten erzählt werden, als die mittlerweile über den ganzen Planeten verteilten Ruinen von Groß- und Kleinstädten noch von gesunden und glücklichen Cromsaggi bewohnt wurden, handelt es sich um Märchen, die man erzählt, um hungrige Kleinkinder zu trösten, Kinder, die bald groß genug sein werden, um zu kämpfen und nicht mehr an diese Märchen zu glauben.
Sie sollten uns weiterhin auf die Art überleben lassen, auf die wir immer überlebt haben, Fremder“, fuhr der Patient fort, während er sich bis zum äußersten anstrengte, sich auf der Trage aufzurichten. „Die Vorstellung von einer Welt ohne Krieg ist zu furchtbar, um sich darüber Gedanken machen zu können.“
Lioren stellte noch mehr Fragen, aber der Patient wollte nicht mehr mit ihm sprechen, obwohl er bei vollem Bewußtsein war und sein Gesundheitszustand sogar Anzeichen einer leichten Besserung aufwies.
Der Oberstabsarzt hatte keinerlei Zweifel, daß für das Leiden, von denen die etwas über zehntausend überlebenden Cromsaggi befallen worden waren, rasch ein medizinisches Heilverfahren entdeckt werden würde. Doch ob eine Spezies es wert war, gerettet zu werden, die Kriege ausschließlich mit den natürlichen Waffen führte, die ihr die Evolution zur Verfügung gestellt hatte, weil sie sich dadurch eine Zeitlang wohler fühlte, dessen war er sich nicht sicher. Durch die strengen Regeln, nach denen sich die Kämpfe richteten, stellte sich die Situation nicht weniger barbarisch dar. Zwar kämpften die DCSLs nicht gegen schwächere Gegner oder Kinder und auch nicht gegen die wenigen Cromsaggi, die sich in einem fortgeschrittenen Alter befanden, aber nur deshalb nicht, weil das persönliche Gefahrenelement — und somit wahrscheinlich auch die emotionale Befriedigung — geringer war. Lioren war froh, daß er nur die Verantwortung dafür trug, die an der Seuche Erkrankten körperlich gesund zu machen, und nicht dafür, den offenbar noch stärker in Mitleidenschaft gezogenen Verstand zu kurieren, der in ihren Körpern steckte.
Und dennoch gab es hin und wieder Augenblicke, in denen er sich bemühte, die Gedanken seiner Patienten von ihrem besorgniserregenden Gesundheitszustand auf andere Dinge zu lenken und ihnen den interstellaren Raumflug und die galaktische Föderation zu erklären. Er beschrieb ihnen die verblüffende Vielfalt an Gestalten und Größen, die intelligentes Leben annehmen konnte, und versuchte ihnen klarzumachen, daß der Planet, auf dem sie lebten, nur einer von vielen Hunderten von bewohnten Planeten war. Wie er dabei immer wieder feststellen konnte, besaß der Verstand der Cromsaggi trotz dieser furchterregenden und unerklärlichen Einstellung zum Tod fast dieselbe Beweglichkeit und Intelligenz wie sein eigener, wenn auch nicht das gleiche Maß an Bildung und Wissen.