Dick Francis
Rat Race
Kapitel 1
Die ersten vier Passagiere nahm ich in White Waltham an Bord der neuen Cherokee Six 300, der leider nur ein kurzes Dasein beschieden sein sollte. Die hellblauen Polster rochen nach neuem Leder, kein einziger Kratzer verunzierte den strahlend weißen Rumpf. Ein hübsches, kleines Flugzeug, solange es noch als solches erkennbar war.
Sie hatten mich für zwölf Uhr bestellt, waren aber schon in der Bar, als ich um zwanzig vor landete. Drei doppelte Whiskys und eine Limonade.
Ihre Identifizierung war nicht weiter schwierig: An einem kleinen Tisch standen mehrere Stühle, auf denen vier leichte Regenmäntel lagen, drei Feldstecher, zwei Ausgaben der Sporting Life und ein leichter Rennsattel. Die vier Passagiere standen in lockerer Formation, zusammengeführt offenkundig nicht durch Freundschaft, sondern durch geschäftliche Interessen. Keiner von ihnen sprach, aber man spürte, daß ein Wortwechsel vorausgegangen war. Einem von ihnen, einem ziemlich großen Mann, stand der Zorn noch ins Gesicht geschrieben. Der kleinste, offensichtlich ein Jockey, stand steif und mit hochroten Wangen da. Und die beiden anderen, ein älterer Mann und eine Frau in mittleren Jahren, hatten ihre Blicke so unverwandt ins Leere gerichtet, daß es dafür nur eine Erklärung geben konnte: Nachtschwarze Gedankenwolken ballten sich in ihren Köpfen zusammen.
Ich ging durch den großen Warteraum auf sie zu und wandte mich an eine unbestimmte Stelle in der Luft.
«Major Tyderman?«
Der ältere Mann, der mit» Ja?«antwortete, mußte sich seinen Major in längst vergangenen Tagen verdient haben; er ging wohl schon auf die Siebzig zu, hatte sich aber gut in Form gehalten. Klein, durchtrainierter Körper, drahtiger, kurzer Schnurrbart und scharfe kleine Augen. Das sich lichtende, dünne, graumelierte Haar war seitlich über den Schädel gekämmt, und den Kopf hielt er militärisch steif, das Kinn fast auf der Brust. Angespannt. Sehr angespannt. Und wachsam, mit einer Tendenz, die Welt grundsätzlich mit Argwohn zu betrachten.
Er trug einen leichten, rehbraunen Anzug, dessen Schnitt vage an seine militärische Vergangenheit erinnerte, und hatte im Gegensatz zu den anderen seinen Feldstecher nicht abgelegt, sondern so über die Brust gehängt, daß das Futteral wie ein Schottentäschchen von seinem Bauch abstand. Klubabzeichen aus Metall und bunter Pappe hingen zu beiden Seiten in dicken Büscheln davon herunter.
«Ihr Flugzeug ist da, Major«, sagte ich.»Ich bin Matt Shore… Ich fliege Sie.«
Er warf einen Blick über meine Schulter, als suche er nach jemand anderem.»Wo ist Larry?«fragte er scharf.
«Er hat gekündigt«, antwortete ich.»Eine Stelle in der Türkei angetreten.«
Der Blick des Majors brach seine Suche ruckartig ab.»Sie sind neu«, sagte er vorwurfsvoll.
«Ja«, gab ich zu.
«Ich hoffe, Sie kennen den Weg.«
Er meinte es ernst. Ich sagte höflich:»Ich werde mein Bestes tun.«
Die Frau, die links vom Major stand, sagte tonlos:»Als ich das letzte Mal zum Rennen geflogen bin, hat der Pilot sich verflogen.«
Ich sah sie an und schenkte ihr das vertrauenerweckendste Lächeln, das ich zustande brachte.»Das Wetter ist heute so gut, daß wir in dieser Hinsicht nichts zu befürchten haben.«
Das entsprach nicht der Wahrheit. Der Wetterbericht hatte für diesen Juninachmittag Kumuluswolken angekündigt. Und jeder konnte sich verfliegen, wenn nur die entsprechenden Pannen passierten. Die Frau gab sich keinen Illusionen hin, das verriet mir der Blick, mit dem sie mich bedachte. Und ich gab den Versuch auf, Zuversicht zu verströmen. Sie brauchte keine. Sie hatte alle Zuversicht der Welt. Sie war fünfzig und von zerbrechlichem Äußeren, ergrauendes Haar, kinnlanger Pagenschnitt mit geradem Pony. Ihre sanften, braunen Augen lagen unter dichten, dunklen Brauen, und ihr Mund verhieß scheinbar Freundlichkeit. Aber ihre Haltung und ihr Benehmen verrieten eine natürliche Autorität, die auf viel stabilerem Fundament ruhte als die des Majors. Sie war die einzige von den vieren, die sich äußerlich nichts von einer etwaigen Verstimmung anmerken ließ.
Der Major hatte auf die Uhr geschaut.»Sie sind früh dran«, sagte er.»Wir haben noch Zeit für einen zweiten Drink. «Er wandte sich an den Barkeeper und bestellte noch eine Runde für sich und die drei anderen, bevor er, als sei ihm dieser Gedanke erst jetzt gekommen, mich fragte:»Möchten Sie auch etwas?«
Ich schüttelte den Kopf.»Nein, danke.«
«Acht Stunden vorm Flug kein Alkohol mehr«, bemerkte die Frau ohne besondere Anteilnahme.»Stimmt’s?«
«Mehr oder weniger«, pflichtete ich ihr bei.
Der dritte Passagier, der große Mann mit dem wütenden Gesicht, sah mürrisch zu, wie der Barkeeper einen doppelten Johnnie Walker abmaß.»Acht Stunden. Gütiger Gott«, sagte er. Er sah so aus, als vergingen bei ihm selten acht Stunden, ohne daß er zwischendurch nachtankte. Seine Knollennase, die purpurnen Äderchen auf seinen Wangen, die aufgeschwemmte Wampe — dafür war wohl ein nettes Sümmchen Alkoholsteuer draufgegangen.
Die Spannung, die bei meinem Erscheinen geherrscht hatte, legte sich langsam. Der Jockey nippte an seiner kalorienreduzierten Limonade; die helle Röte wich von der straffen Haut über seinen Wangenknochen und war nur noch in blasseren Flecken auf seinem Hals zu sehen. Etwa Anfang Zwanzig, rötliches Haar, von Natur aus kleine Statur, feuchtglänzende Haut. Kaum Gewichtsprobleme, dachte ich. Keine Entwässerung nötig. Der Glückspilz.
Der Major und sein stämmiger Freund tranken hastig, murmelten Unverständliches und entfernten sich schließlich in Richtung Herrentoilette. Die Frau sah den Jockey an und sagte mit einer Stimme, die freundlicher klang, als ihre Worte es hätten vermuten lassen:»Haben Sie den Verstand verloren, Kenny Bayst? Wenn Sie sich weiter mit Major Tyderman anlegen, können Sie sich nach einem neuen Job umsehen.«
Der Jockey warf mir einen flüchtigen Blick zu, schaute dann wieder weg und klappte seinen Kußmund entschlossen zu. Er stellte das noch halbvolle Limonadenglas auf den Tisch und griff nach einem der Regenmäntel und dem Rennsattel.
«Welches Flugzeug?«fragte er mich.»Ich möchte meine Sachen verstauen.«
Er hatte einen starken australischen Akzent, in dem jetzt eine gereizte Schärfe mitschwang. Der Blick, mit dem die
Frau ihm nachsah, hätte als Lächeln durchgehen können, wäre nicht die Kälte in ihren Augen gewesen.
«Der Gepäckraum ist abgeschlossen«, sagte ich.»Ich begleite Sie. «Zu der Frau sagte ich:»Soll ich Ihren Mantel mitnehmen?«
«Ja, danke. «Sie zeigte auf den Mantel, der offensichtlich ihr gehörte, ein leuchtend rostfarbenes Ding mit Kupferknöpfen. Ich nahm ihn mitsamt ihrem profihaften Fernglas vom Stuhl und folgte dem Jockey ins Freie.
Nachdem er etwa zehn Schritte in stiller Wut zurückgelegt hatte, platzte er heraus:»Es ist so verdammt einfach, dem Mann auf dem Pferd die Schuld zu geben.«
«Der Pilot ist immer schuld«, sagte ich milde.»Hart, aber ungerecht.«
«Wie?«sagte er.»O ja. Wie recht Sie haben. So ist es.«
Wir kamen an das Ende des Wegs und gingen quer über den Rasen. Der Jockey verströmte noch immer heiße Wut. Ging mich nichts an.
«Nur der Vollständigkeit halber«, sagte ich,»wie heißen meine anderen Passagiere eigentlich? Außer dem Major, meine ich.«
Er drehte sich überrascht zu mir um.»Sie kennen unsere Annie nicht? Annie Villars? Sieht aus wie die nette, alte Oma von nebenan und hat eine Zunge, mit der man einem Känguruh die Haut abziehen könnte. Jeder kennt die kleine Annie. «Er klang verdrossen und ernüchtert.
«Ich verstehe nicht viel vom Pferderennen«, sagte ich.
«Nein? Nun, sie ist Trainerin. Eine verdammt gute Trainerin, das muß man ihr lassen. Sonst würde ich auch nicht bei ihr bleiben. Nicht bei der scharfen Zunge. Ich sag Ihnen was, Sportsfreund, die Frau hat einen Ton am Leib, wenn sie ihre Stallburschen auf der Galoppbahn antreibt, da würde jeder Oberfeldwebel vor Neid erblassen. Aber honigsüß bei den Besitzern. Die fressen ihr aus ihrem zierlichen Händchen.«