Ich schüttelte schweigend den Kopf.
Er blickte mich verwirrt an.»Frauen«, sagte er.»Frauen.«
«Ich kann sie nicht heiraten«, sagte ich wie betäubt.»Ich habe ja kaum genug für das Aufgebot.«
«Das spielt keine Rolle.«
«Für mich schon.«
«Aber für Nancy nicht«, sagte er. Dann stutzte er.»Meinen Sie damit — daß sie schließlich doch nicht so weit daneben lag?«»Nicht allzu weit… denke ich.«
Sein Blick fiel wieder auf den Zeitungsausschnitt in seiner Hand, und plötzlich knüllte er ihn zusammen.»Es sah so übel aus«, sagte er mit einem Anflug von Entschuldigung.
«Es war übel«, sagte ich.
Er blickte mich direkt an.»Ja. Ich verstehe jetzt, daß es das war.«
Ein Taxi fuhr vor, bremste scharf, und meine Passagiere zwängten sich heraus, ausgelassen und angeheitert mit einem Gewinner und einer Flasche Champagner.
«Ich werde es ihr erklären«, sagte Colin.»Ich werde sie zurückholen…«Sein Gesichtsausdruck zeigte plötzlich Schrecken. Und Verzweiflung.
«Wo ist sie hin?«fragte ich.
Er verdrehte die Augen wie vor Schmerz.
«Sie sagte«- er schluckte —»sie ginge — zu Chanter.«
Ich saß den ganzen Abend in meinem Wohnwagen und hätte am liebsten etwas zerschlagen. Die Kochecke zertrümmert. Die Fenster. Den ganzen Wohnwagen.
Vielleicht hätte ich mich dann besser gefühlt, wenn ich es getan hätte.
Chanter…
Konnte nicht essen, nicht denken, nicht schlafen.
Hatte noch nie meinen eigenen Rat befolgt: Laß dich auf nichts ein. Laß dich nirgends hineinziehen. Hätte mich daran halten sollen, nicht auftauen sollen. Eisig bleiben. In Sicherheit.
Versuchte, zurück in die Arktis zu kommen und nichts zu fühlen, aber es war schon zu spät. Die Gefühle waren
mit einer Wucht und einer Intensität zurückgekehrt, auf die ich hätte verzichten können.
Ich hatte nicht gewußt, daß ich sie liebte. Hatte gewußt, daß ich sie mochte, daß ich mich wohl bei ihr fühlte, gern mit ihr zusammen war und gern länger mit ihr zusammengeblieben wäre. Ich hatte gedacht, ich könnte es bei der Freundschaft belassen, und nicht begriffen, wie weit ich schon gegangen war, wie tief ich mich schon verstrickt hatte.
O Nancy.
Schließlich schlief ich ein, nachdem ich die Flasche Whisky von Kenny Bayst halb ausgetrunken hatte, aber viel half das auch nicht. Um sechs Uhr morgens wachte ich auf, die furchtbare Folter ging weiter, und dazu hatte ich noch Kopfschmerzen.
Ich hatte den ganzen Tag über keinen Flug, der mich hätte ablenken können.
Nancy und Chanter…
Irgendwann am Vormittag rief ich vom Münzfernsprecher im Warteraum für die Passagiere die Kunstakademie in Liverpool an, um mir Chanters Privatadresse geben zu lassen. Die klare Stimme einer Sekretärin antwortete mir: Es tue ihr außerordentlich leid, aber sie gäben grundsätzlich die Privatadressen ihrer Mitarbeiter nicht bekannt. Wenn ich schreiben würde, würden sie den Brief weiterleiten.
«Könnte ich ihn dann vielleicht sprechen?«fragte ich; was das genützt hätte, wußte allein der Himmel.
«Ich fürchte nein, denn er ist nicht im Haus. Die Akademie ist vorübergehend geschlossen, und wir wissen nicht, wann der Unterrichtsbetrieb wiederaufgenommen wird.«
«Die Studenten«, fiel mir ein,»streiken?«
«Ja — ähh — so ist es«, pflichtete sie bei.
«Gibt es denn vielleicht irgendeine andere Möglichkeit, Chanter zu erreichen?«
«Oje… Sie sind schon der zweite, der mir damit zusetzt… Aber wenn ich ehrlich sein soll, um Ihnen die Wahrheit zu sagen, wir wissen nicht, wo er wohnt… Er zieht häufig um und macht sich nur selten die Mühe, uns auf dem laufenden zu halten. «Der klaren Stimme war Mißbilligung und Hoffnungslosigkeit zu entnehmen.»Wie ich auch Mr. Ross schon sagte — ich habe beim besten Willen keine Ahnung, wo Sie ihn finden könnten.«
Ich saß im Mannschaftsraum, und der Nachmittag schleppte sich so dahin. Hatte um halb drei alle Flugaufzeichnungen auf den letzten Stand gebracht, las einige neu eingetroffene Rundschreiben und rechnete mir aus, daß es nur noch drei Wochen und vier Tage bis zu meiner nächsten flugmedizinischen Tauglichkeitsuntersuchung waren, fand heraus, daß ich ein Fünfzehntel meines wöchentlichen Haushaltsgeldes vertrank, wenn ich jeden Tag vier Tassen Kaffee aus Honeys Maschine zog, beschloß, es öfter einmal bei Wasser zu belassen, blickte auf, als Harley hereinstolziert kam, hörte mir eine Lektion in Sachen Loyalität (meine ihm gegenüber) an, erfuhr, daß ich am nächsten Tag einen Trainer aus Wiltshire zu den Rennen nach Newmarket fliegen sollte und daß ich mir meine Papiere abholen könne, wenn ich Polyplane noch einen einzigen Grund lieferte, über mich oder die Firma beim Handelsministerium Meldung zu machen.
«Werde versuchen, es zu vermeiden«, murmelte ich. Stellte ihn damit nicht zufrieden.
Stierte auf die Tür, die hinter ihm ins Schloß fiel.
Stierte auf die Uhr. Fünfzehn Uhr zweiundzwanzig.
Chanter und Nancy.
Im Wohnwagen das gleiche wie am Abend zuvor. Versuchte es mit Fernsehen. Irgendeine Komödie über das Leben in einer amerikanischen Vorstadt, angereichert mit Lachern aus der Konserve. Hielt es fünf Minuten lang aus und fand die Stille danach fast genauso unerträglich.
Ging einmal halb übers Flugfeld, dann hinüber ins Dorf, trank im Pub ein Bier, lief zurück. Insgesamt vier Meilen. Als ich in den Wohnwagen stieg, war es erst neun Uhr.
Honey Harley erwartete mich, aufs Sofa drapiert, zeigte alles, was sie an Bein zu zeigen hatte. Rosa gemustertes Strandkleid aus Baumwolle, sehr tiefer Ausschnitt.
«Hallo«, sagte sie selbstsicher.»Wo haben Sie gesteckt?«
«War spazieren.«
Sie sah mich fragend an.»Geht Ihnen das Handelsministerium im Kopf herum?«
Ich nickte. Das und anderes.
«Ich würde mir deswegen nicht zu viele Sorgen machen. Was auch immer das Gesetz oder die Gerichte sagen, Sie konnten die Ross-Geschwister ja nicht einfach hängenlassen.«
«Ihr Onkel ist da anderer Meinung.«
«Onkel«, sagte sie sachlich,»ist ein Depp. Und überhaupt: Sie müssen es bloß richtig anstellen. Selbst wenn Sie eine Geldstrafe bekommen, wird Colin Ross sie für Sie bezahlen. Sie brauchen ihn nur zu fragen.«
Ich schüttelte den Kopf.
«Sie sind dämlich«, sagte sie.»Ganz einfach dämlich.«
«Vielleicht haben Sie recht.«
Sie seufzte, setzte sich in Bewegung und stand auf. Ihr wohlgerundeter Körper wippte ein wenig, genau an den richtigen Stellen. Ich dachte an Nancy: viel flacher, viel dünner, weniger augenfällig von Sex durchdrungen und so unendlich begehrenswerter. Ich wandte mich abrupt von Honey ab. Der Gedanke an Chanter traf wie auf einen blanken Nerv, Chanter mit seinen Haaren und seinen Fransen. und seinen Händen.
«Okay, Eisberg«, sagte sie in Verkennung der Umstände,»beruhigen Sie sich. Ihre Tugend ist nicht in Gefahr. Fürs erste bin ich nur heruntergekommen, um Ihnen zu sagen, daß jemand für Sie angerufen hat und Sie bitte zurückrufen möchten.«
«Wer?«Ich versuchte, möglichst gleichgültig zu klingen.
«Colin Ross«, stellte Honey sachlich fest.»Er möchte, daß Sie irgendwann heute abend zurückrufen, wenn es geht. Ich habe ihm gesagt, wenn es um einen Flug ginge, dann könnte ich es auch regeln, aber es ist offensichtlich etwas Privates. «Sie ließ den Satz zwischen einem Vorwurf und einer Frage in der Schwebe und gab mir viel Zeit für eine Erklärung.