»Ich habe schon nach unten gesehen, aber ich kann niemanden entdecken«, sagte Jacob.
Sie hörten Schritte hinter sich, sahen den schwarzen Steward Jonas, riefen ihn heran und fragten ihn nach dem Licht. Jonas' Augen weiteten sich, als er die ominöse Erscheinung sah. Hastig schlug er das Kreuz vor seiner Brust und verfiel dabei in eine Litanei, die sich anhörte, als bete er die Namen aller ihm bekannten Heiligen herunter. Vielleicht waren es aber auch die Namen heidnischer Schutzgeister, so genau konnte man das nicht hören.
»Was haben Sie denn?« fragte Jacob verwirrt.
»Der Geist des Mississippi«, flüsterte der Schwarze und schlug erneut das Kreuz, als sei es schon eine Sünde oder das Heraufbeschwören eines Unheils gewesen, von diesem Geist zu sprechen.
»Der Geist des Mississippi?« Jacob sah erst seine Begleiter und dann den Steward fragend an. »Was soll das bedeuten, Jonas?«
»Der Geist des Mississippi mahnt alle anständigen Menschen, das Schiff zu verlassen, bevor es seine Fahrt antritt«, erklärte Jonas im Flüsterton. »Denn er wird es unterwegs zu sich holen, um es für alle begangenen Frevel zu bestrafen. Das Licht ist die Warnung für alle Menschen reinen Herzens. Das macht der Geist immer so.«
»Sie reden, als hätten Sie das Licht schon öfter gesehen«, meinte Jacob.
»Ich habe es, Gott sei Dank« - Jonas bekreuzigte sich zum drittenmal -, »noch nie gesehen. Aber ich habe schon oft von ihm gehört. Von denen, die es gesehen haben, können nicht mehr viele davon berichten. Nur die, die sich die Warnung zu Herzen genommen und das vom Mississippi-Geist heimgesuchte Schiff verlassen haben.«
Er verfiel wieder in seine Litanei und machte sich derart aufgeregt davon, daß er zweimal stolperte und fast gestürzt wäre. Die vier Männer sahen ihm verblüfft nach.
Jim Illinois spuckte verächtlich aus. »Abergläubischer Nigger!«
Jacob konnte kaum glauben, was er eben gehört hatte. »Sie, ein Schwarzer, nennen Jonas einen Nigger?«
»Ja, weil er einer ist. Er gehört zu der Sorte Schwarzer, die sich von den Weißen ein X für ein U vormachen lassen. Die alles glauben, was ihnen der Pfarrer eintrichtert. Arbeite hübsch brav und laß dich ordentlich von deinem Massa auspeitschen, dann kommst du in den Niggerhimmel; die glauben es! Solange es Schwarze gibt, die denken wie dieser Jonas, werden die Menschen meiner Hautfarbe niemals ganz frei sein. Der Geist des Mississippi, daß ich nicht lache!«
»Jedenfalls ist es jetzt verschwunden«, meinte Devlin und deutete mit der glimmenden Spitze seines Zigarillos hinaus aufs Wasser. »Vielleicht ist der Geist der Meinung, die Menschen reinen Herzens lange genug gewarnt zu haben.«
»Für was er dieses Schiff wohl bestrafen sollte?« überlegte Martin laut, als nehme er die Geschichte des Stewards ernst.
»Vielleicht für den Frevel der Wilcox-Brüder, die den Fluß zum Austragungsort ihrer persönlichen Feindschaft machen«, schlug Devlin vor.
»Vielleicht auch für die Dummheit, mit der einige Leute hier an Bord geschlagen sind«, sagte Illinois unwirsch und warf den Rest seines Zigarillos über Bord. »Mir langt es für diesen Abend jedenfalls, Gentlemen. Ich wünsche allseits eine gute Nacht.« Damit zog er sich zurück.
Die drei anderen rauchten noch zu Ende. Jacob starrte dabei gebannt aufs Wasser, um eine Spur des mysteriösen Lichtes zu entdecken. Vergeblich.
*
Jacob träumte schlecht in dieser ersten Nacht an Bord der QUEEN OF NEW ORLEANS. Von der Fahrt den Mississippi hinauf. Von unheimlichen Lichtern, die den ganzen breiten Fluß ausfüllten und sich in geisterhafte Gestalten verwandelten, die sich aus dem Wasser erhoben und riesenhafte Klauen nach dem Dampfer ausstreckten. Sie hielten das Schiff fest, das in seiner verzweifelten Anstrengung Feuer und dicken schwarzen Rauch aus den beiden großen Schornsteinen hustete. Ohne Erfolg. So sehr sich die Schaufelräder auch drehten und eine irrwitzige Geschwindigkeit erreichten, die Gespenster waren stärker, ohne sich anstrengen zu müssen. Schließlich war der Mississippi-Steamer so erschöpft, daß Dampf und Rauch aus allen Fugen stieg und das Schiff gänzlich einhüllte.
Jacob wachte früh am Morgen schweißgebadet auf und fühlte sich wie gerädert. Neben ihm, an der gegenüberliegenden Kabinenwand, lag Martin ruhig in seinem Bett und schlief den Schlaf des Gerechten, um den ihn sein Freund beneidete. Es war selten, daß Jacob von Alpträumen geplagt wurde, und er fragte sich, was dafür verantwortlich sein mochte. Die unheimliche Erzählung des schwarzen Stewards? Oder steckte mehr dahinter, eine Vorahnung kommender Ereignisse?
Er wischte diese unnützen Gedanken beiseite und wälzte sich aus dem Bett. Er verspürte keine Lust, noch einmal einzuschlafen und dabei möglicherweise wieder in seine groteske Traumwelt einzutauchen. Lieber ging er hinaus aufs Deck und beobachtete das rege Treiben, das dort schon herrschte.
Offenbar war die fehlende Ladung eingetroffen. Matrosen und Schiffsarbeiter schleppten Säcke, Kisten und Fässer an Bord und wurden von Kapitän Homer F. Wilcox persönlich angetrieben. Er schien es wirklich eilig zu haben, Cairo zu verlassen. Aufgrund von Devlins Erzählung kannte Jacob seine Beweggründe, wenn er sie auch nicht ganz nachvollziehen konnte.
Wilcox lief mit einer seiner Stellung unangemessenen Hast auf dem Hauptdeck hin und her, brüllte Kommandos und schien überall zugleich sein zu wollen. Wie er so über sein Schiff lief, erinnerte er Jacob wieder an das seltsame wandernde Licht in der letzten Nacht, den >Geist des Mississippic, wie Jonas gesagt hatte.
Der Kapitän war ein kleiner, zäh aussehender Mann in den Dreißigern mit rötlich schimmerndem Haar und gleichfarbigen Koteletten, die bis an sein Kinn wucherten. Passend zu seinem Haar war sein Gesicht, das von einer weit vorspringenden Nase beherrscht wurde, gerötet. Jacob konnte sich nicht erinnern, ob er diese Rötung der Haut gestern schon bei Wilcox bemerkt hatte oder ob sie eine Folge der Erregung war, in der sich der Kapitän offensichtlich befand.
»Er ist ganz aus dem Häuschen, unser guter Captain Wilcox«, sagte eine Stimme hinter Jacob. »Der MississippiGeist macht ihm ganz schön zu schaffen. Vielleicht befürchtet er, daß ihm noch mehr seiner Leute weglaufen, wenn er sie nicht persönlich beaufsichtigt. Schließlich sind ein paar Schwarze unter den Matrosen und noch mehr unter den Schiffsarbeitern.«
Beauregard Devlin, der schon am frühen Morgen wie aus dem Ei gepellt aussah, trat neben Jacob ans Geländer des Promenadendecks. Er trug einen taubenblauen Dreiteiler und einen flachkronigen schwarzen Hut. Zwischen seinen Lippen steckte eine der länglichen Zigarillos. Er bot Jacob eine an, aber der lehnte ab. Der junge Deutsche fühlte sich nicht gut und wollte seinen Magen vor dem Frühstück nicht mit dem Tabak belasten.
»Wie haben Sie das eben gemeint, Mr. Devlin? Das mit dem Mississippi-Geist?«
»Haben Sie noch nicht davon gehört? Während der Nacht sind etwa ein Dutzend schwarze Stewards und Köche mit Sack und Pack von Bord geschlichen, darunter auch unser Freund Jonas. Er hat seine Kollegen mit seinem Bericht über das unheimliche Flußlicht offenbar so verrückt gemacht, daß sie auf die ausstehende Heuer verzichtet haben.« Der Spieler lachte. »Wenn Jim das hört, bekommt er einen Tobsuchtsanfall.«
Zweifelnd sah Jacob zu Kapitän Wilcox hinunter und sah dann wieder Devlin an. »Meinen Sie wirklich, daß dieses Licht solchen Einfluß auf die Schwarzen hat?«
»Das Licht vielleicht nicht, aber ihr Aberglaube. Sie dürfen nicht vergessen, daß die meisten Neger zwar das Kruzifix um den Hals tragen, aber darunter häufig die Amulette ihrer Zauberer. Bei ihnen hat sich eine seltsame Mischung aus christlicher Religion und afrikanischem Götterglauben herausgebildet, in dem es vor Geistern, Halbwesen und Dämonen nur so wimmelt. Und die den unberechenbaren Launen des Mississippi ausgesetzten Schiffer sind besonders abergläubisch. Ich denke, auch mancher der weißen Matrosen könnte aus Angst vor dem Mississippi-Geist Reißaus nehmen, wenn er davon erfährt. Ein zusätzlicher Grund für den Captain, seine Leute zur Eile anzutreiben. Er möchte wohl gern auf dem Fluß sein, wenn die Kunde von dem seltsamen Licht unter den Schiffern die Runde macht. Außerdem sichert ihm das einen Vorsprung vor seinem Bruder, der frühestens am Nachmittag ablegen kann, vielleicht auch erst morgen.«