Aber nicht alle. Aus der Tür, durch die er aufs Deck getreten war, sah er eine Gestalt kommen, die ihn dazu veranlaßte, sich hinter einem der beiden großen Schornsteine zu verstecken, die auch bei Nacht unentwegt Glut und Rauch ausstießen. Die Glut, die sich nach dem Austritt aus den dicken Rohren rasch verteilte, leuchtete in der Dunkelheit besonders stark. Wie ein Heer von Glühwürmchen. Es erinnerte ihn an die Sommernächte auf der Plantage. Eine der wenigen schönen Erinnerungen an jene Zeit.
Er hatte sich nicht getäuscht. Der gedrungene, breitschultrige Mann, der aufs Promenadendeck trat, war Steve Prescott. Was trieb LaGranges Leibwächter mitten in der Nacht nach draußen? Konnte er auch nicht schlafen, wie Illinois? Das wäre ein seltsamer Zufall gewesen. Und seltsame Zufälle waren dem Schwarzen suspekt.
Nein, Prescott schien nicht auf Deck gekommen zu sein, um sich an der frischen Luft zu erholen. Er hatte ein bestimmtes Ziel, denn zielstrebig ging er nach achtern zum Kesseldeck.
Illinois folgte ihm, wie es einem Schatten zukam. Dabei hielt er sich immer im Schutz der Aufbauten und ging so leise, wie es nur ein ehemaliger Sklave konnte, der gelernt hatte, seiner Herrschaft möglichst wenig aufzufallen.
Prescott wurde auf dem Achterdeck bereits von einer Gestalt erwartet, die hinter den Kabinenaufbauten stand und sich anscheinend nicht weiter hervorwagte.
»Da sind Sie ja endlich, Mr. Prescott«, flüsterte die Stimme eines Mannes, die Illinois vergeblich zu identifizieren versuchte. Zwar kam sie ihm bekannt vor, aber der Flüsterton bot ihm zuwenig Anhaltspunkte.
»Schön, daß Sie da sind«, sagte Prescott. »Ich habe Ihnen ein Geschäft vorzuschlagen, ein sehr einträgliches Geschäft.«
»Für wen?«
»Für Sie?«
»Im Auftrag von Mr. LaGrange?«
»Yeah.«
Die Sache wurde allmählich interessant. Illinois mußte unbedingt herausfinden, was da vor sich ging und wer der andere Mann war. Er ließ sich auf alle viere nieder und schlich wie ein Raubtier näher, bis er hinter ein paar großen Kisten verborgen lag. Vorsichtig schob er den Kopf über die Kisten und konnte jetzt die rötlichen Haare und den Bart gleicher Farbe des anderen Mannes sehen. Es war Gerald, der irische Barmann aus dem Spielsalon.
»Um was geht es?« erkundigte sich Gerald.
»Sie erinnern sich an die Spielkartensätze, die Mr. LaGrange bei Ihnen gekauft hat, als er seine Spielchips in Geld umwechselte?«
»Ja, Sir. Es waren fünf Sätze. Ich habe mich schon gewundert, was er damit will.«
»Ich habe sie bei mir«, sagte Prescott und schlug auf seine Jackentasche. »Sie sind, hm, sagen wir, auf eine spezielle Art präpariert. Mr. LaGrange möchte, daß Sie sie wieder in Originalpackungen stecken und versiegeln. Und immer wenn er Ihnen morgen abend ein Zeichen gibt, verkaufen Sie ihm oder einem anderen Spieler von seinem Tisch eines jener Päckchen.«
Es dauerte fast eine halbe Minute, bis sich der Barmann von seiner Überraschung über diesen Vorschlag erholt hatte. »Was Sie von mir verlangen, Mr. Prescott, ist Beihilfe zum Betrug!«
»So ist es. Aber wenn es Ihr Gewissen beruhigt, sagen wir doch einfach, Sie helfen dabei, dem Glück ein wenig nachzuhelfen. Mr. LaGrange hat es nämlich gar nicht gefallen, wem Fortuna heute abend zugelächelt hat.«
»Sie sprechen von Mr. Devlin.«
»Yeah. Mr. LaGrange möchte morgen wieder gegen ihn spielen, aber diesmal mit einem anderen Ausgang.«
In Illinois' Kopf schwirrten die Gedanken durcheinander, als er das Gehörte verarbeitete. Und ihm gingen wieder die Wörter durch den Kopf, die Devlin im Schlaf gemurmelt hatte: Vater, LaGrange, Betrüger.
»So was kann ich nicht machen«, sagte Gerald entrüstet. »Mein guter Ruf steht auf dem Spiel. Und der gute Ruf der QUEEN OF NEW ORLEANS.«
»Was sagt Ihr guter Ruf zu zweihundert Dollar?«
Der Barmann überlegte eine Weile und meinte dann: »Er sagt, daß fünfhundert Dollar noch besser klingen als zweihundert.«
»Sie sind zu gierig, Gerald. Was will ein Mann wie Sie mit so viel Geld anfangen?«
»Mir wird schon etwas einfallen. Entweder Sie zahlen mir das Geld, und zwar im voraus, oder ich spiele nicht mit!«
»Na gut«, gab Prescott nach und wollte noch etwas sagen, verschluckte das aber, weil er ein Geräusch gehört hatte.
Ein kratzendes Geräusch. Illinois hatte es verursacht, als er in seiner Erregung eine der Kisten ein Stück verschoben hatte. Er hatte sie für schwerer gehalten und hätte nicht gedacht, daß sie sich so leicht bewegen ließen. Jetzt konnte er nur hoffen, daß Prescott und Gerald keinen Verdacht schöpften.
»Ist etwas?« fragte Gerald.
Prescott schüttelte den Kopf. »Nein. Mir war so, als hätte ich etwas gehört. Aber ich habe mich wohl getäuscht.«
»Vielleicht auch nicht, Sir. Wird wohl eine der verfluchten Ratten gewesen sein, die es sich auf unserem Kahn gemütlich machen. Man wird sie einfach nicht los, obwohl der Captain zwanzig Cent auf jede gefangene Ratte ausgesetzt hat. Aber das hilft nichts, im Gegenteil. Ein paar von den Schiffsarbeitern im Unterdeck züchten die Biester jetzt, nur um eine möglichst hohe Prämie zu kassieren.«
»Eine Ratte, ja, das wird es gewesen sein«, meinte Prescott.
Noch während er sprach, stieß er sich vom Boden ab und machte einen weiten Satz zu den Kisten, hinter denen Illinois lag. Der Schwarze war so überrascht, daß er für zwei Sekunden wie gelähmt war. Zeit genug für den Angreifer, den im Licht einer Fensteröffnung aufblitzenden Stahl, der in seiner Rechten lag, tief in Illinois' Fleisch zu stoßen. Ein stechender Schmerz raste durch die linke Seite des Verletzten und breitete sich über den ganzen Oberkörper aus.
»Der verdammte Nigger hat uns belauscht«, zischte Prescott und zog die blutige Klinge aus Illinois' Körper. »Dafür wird er jetzt zur Hölle fahren!«
Als das Messer erneut auf ihn niederfuhr, mußte Illinois an das seltsame Licht und die Worte des Stewards Jonas denken: >Der Geist des Mississippi warnt alle anständigen Menschen, das Schiff zu verlassen, bevor es seine Fahrt antritt. Denn er wird es unterwegs zu sich holen, um es für alle begangenen Frevel zu bestrafen.< Illinois hatte die QUEEN OF NEW ORLEANS nicht verlassen und statt dessen Jonas verspottet. Dafür mußte er jetzt büßen. Der Aberglaube des Stewards kam ihm jetzt gar nicht mehr lächerlich vor.
Das war sein letzter Gedanke, bevor Prescotts Klinge seine Lebensadern zerfetzte.
*
»Sie... Sie haben ihn umgebracht«, keuchte Gerald, der langsam nähergetreten war und die Szene ungläubig betrachtete.
Der über Jim Illinois' Leiche kniende Steve Prescott wandte ihm den Kopf zu. Sein Bowler war heruntergefallen, und das aschblonde Haar hing wirr in seine Stirn. »Ja, ich habe ihn umgebracht! Was hätte ich denn tun sollen? Warten, bis der verschissene Nigger alles ausplaudert, was er gehört hat?
Helfen Sie mir lieber, ihn über Bord zu werfen!«
»Einfach über Bord?«
»Natürlich. Keine Leiche, kein Mord.«
»Verstehe«, murmelte Gerald, noch immer verwirrt.
Dann half er Prescott, den großen, schweren, noch lebenswarmen Körper hochzuheben, als plötzlich Schritte und Stimmen hinter ihnen ertönten.
»Was ist denn das?«
Ein paar Schritte hinter Prescott und Gerald standen Brady Tomlinson und Hutch Potter, die sich im Schutz der Dunkelheit aufs Promenadendeck begeben hatten, um zu sehen, ob sie einen volltrunkenen reichen Pinkel finden konnten, der in einer dunklen Ecke lag und nur darauf wartete, daß man ihm die Geldbörse abnahm. Bis jetzt hatten sie keinen Erfolg gehabt, aber Tomlinson ahnte sofort, daß bei der Sache, der sie so unerwartet gegenüberstanden, Geld herauszuschlagen war.
»Was ist mit dem Schwarzen?« fuhr der spitzgesichtige Tomlinson fort. »Ist er etwa tot?«