Allbright hatte so ziemlich alles in Whiskey umgesetzt, was ihm einmal gehört hatte. Das Fernrohr aber zu behalten war eine weise Entscheidung gewesen, die sich jede Woche in einem berauschenden Abend auf fremde Kosten auszahlte. Denn die Wettgewinner würden nicht kleinlich sein. Heute waren es die Menschen, die auf die QUEEN OF NEW ORLEANS schworen. Nächste Woche würden es vielleicht die glühenden Anhänger der QUEEN OF ST. LOUIS sein.
Der weiße Fleck wuchs zu den allmählich unterscheidbaren Konturen des Dampfers heran. Jetzt erkannte man, daß der tief schwarze Rauch - die Farbe war ein extra für die imposante Ankunft durch ein wenig Pechtanne hervorgerufener Effekt -keineswegs kerzengerade in den Himmel stieg, wie es auf weitere Entfernung den Anschein gehabt hatte, sondern durch den Fahrtwind nach achtern über die ganze Länge des Dampfers wehte. Das hielt die Passagiere nicht davon ab, die oberen Decks in solchen Massen zu bevölkern, daß sie schwarze Inseln im Weiß des Schiffes bildeten. Auf dem Vorschiff des Hauptdecks drängten sich die Matrosen zusammen und bildeten eine weitere dunkle Insel, die Aufmerksamkeit genießend, die ihrem Schiff und damit auch ihnen zuteil wurde.
Je näher das Schiff kam, desto langsamer drehten sich die beiden großen Schaufelräder an seinen Seiten. Die zwischen den Schornsteinen angebrachten, golden leuchtenden Buchstaben wurden für das bloße Auge entzifferbar und bestätigten Billy Allbrigths Meldung. Kapitän Homer F. Wilcox und seine QUEEN OF NEW ORLEANS hatten das Wettrennen nach Cairo gewonnen.
Die Zurufe, Winke und geschwenkten Hüte der Menschen auf dem Kai wurden von den Schiffspassagieren erwidert. Nur die Matrosen auf dem Vorschiff bewahrten ihre stoische Ruhe, der Würde unerschütterlicher, sich ihrer Stellung, bewußter Dampfschiffer angemessen. Hinter ihnen leuchtete es feuerrot auf, wie die Menschen an Land jetzt erkennen konnten; um einen zusätzlichen beeindruckenden Effekt zu erzielen, hatte man die Kesseltüren geöffnet, und durch die starke Sauerstoffzufuhr flackerten die Feuer nur um so heftiger.
Neben dem über allem thronenden, protzig mit einer pagodenartigen Kuppel versehenen Ruderhaus stand stolz Kapitän Homer F. Wilcox auf dem Texas-Deck und genoß den Sieg über seinen Bruder und dessen Schiff. Das Ruder hatte er einem Lotsen überlassen, der sich genau mit den Tiefenverhältnissen und Strömungen im Hafen von Cairo auskannte und die QUEEN OF NEW ORLEANS unter dem zufriedenen Tuten der Dampfpfeife auf ihren Anlegeplatz zugleiten ließ.
Immer langsamer wurde der ins Riesenhafte angewachsene Steamer, und der gedrosselte Dampf schoß zischend durch die Druckventile. Auf der breiten Laufplanke, die auf dem Hauptdeck von ein paar Matrosen weit hinausgeschoben wurde, machte sich ein Leichtmatrose mit der aufgeschossenen Festmacherleine sprungbereit.
Fast schien es, als wollte der Dampfer die Kaimauer rammen. Da hob der Kapitän die rechte Hand - das Haltezeichen. Im großen Ruderhaus schlug ein Matrose die Glocke, der Lotse zog den Befehlshebel des Maschinentelegrafen auf die Stopp-Stellung in der Mitte, und die mächtigen Schaufelräder standen still. Aber die QUEEN OF NEW ORLEANS trieb weiterhin auf die Menschen am Pier zu. Nur für Sekunden, dann zog der Lotse den Befehlshebel auf >Ganz langsam zurückc. Die Schaufelräder griffen wieder ins Wasser, drehten sich langsam rückwärts und brachten den Steamer endlich zum Stillstand.
Der Leichtmatrose sprang von der Laufplanke an Land, befestigte die Leine am nächsten Poller und zog die von seinen Kameraden noch weiter über Bord geschobene Planke auf die Kaimauer. Damit war die Verbindung zwischen der QUEEN OF NEW ORLEANS und Cairo hergestellt. Der Leichtmatrose sonnte sich in seinem flüchtigen Ruhm und beantwortete möglichst gewissenhaft alle Fragen nach den jüngsten Ereignissen flußaufwärts. Wo er die Antworten nicht wußte, ließ er seiner Phantasie freien Lauf.
Doch schon wurde er von seinen eigenen Kameraden beiseite geschoben, die weitere Planken ausfuhren, die Menschen an Land zurückdrängten und mehrere Brückenköpfe bildeten, damit Passagiere und Fracht den Dampfer ungehindert verlassen konnten. Jetzt war es mit dem Ruhm des jungen Leichtmatrosen auch schon wieder vorbei, ebenso mit dem von Billy Allbright.
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Die drei deutschen Auswanderer, die bei der Menge auf dem Pier standen, freuten sich zwar auch über die Ankunft des Schiffes, ließen sich von dem Trubel aber nicht anstecken. Für die beiden Männer und die Frau, die einen Säugling in den Armen hielt, war nur wichtig, daß sie möglichst schnell nach Norden kamen. Sie wollten sich einem Oregon-Treck anschließen und mußten sich beeilen, um noch vor Einbruch des lähmenden, tödlichen Winters über die gewaltigen Rocky Mountains zu kommen.
Hinter Jacob Adler, Martin Bauer und Irene Sommer lagen ein paar ruhige Tage, während denen sie in Cairo auf das Eintreffen der QUEEN OF NEW ORLEANS gewartet und sich ein wenig von den zurückliegenden Strapazen erholt hatten. Irene und ihr kleiner Sohn Jamie waren dabei, eine Erkältung auszukurieren, die sie sich beim mehrfachen unfreiwilligen Bad im Ohio zugezogen hatten. Und Martin plagten noch die Schmerzen einer Schußverletzung. Zwar war die Kugel des Südstaaten-Guerillas von einem Militärchirurgen aus seinem linken Oberarm herausgeholt worden, aber den Arm, den er in einer Schlinge trug, überfielen zuweilen heftige Schmerzanfälle.
Die Fahrt auf dem großen Flußdampfer würde, hofften die Auswanderer, so ruhig und erholsam sein wie die Tage in Cairo. Immerhin reisten sie als Deckspassagiere, für die zwei Kabinen reserviert waren. Nicht von ihrem eigenen Geld; das wäre ihnen viel zu teuer gewesen, und sie hätten sich mit einer Zwischendeckspassage begnügt. Nein, sie reisten auf Kosten der US-Regierung. Als kleines Dankeschön dafür, daß Jacob und Martin dabei geholfen hatten, Präsident Abraham Lincoln vor einem Attentat zu schützen.
Fuhrwerke rollten heran, um die Fracht zu übernehmen, die vom Hauptdeck oder aus den Tiefen der Laderäume von Trägern oder mit der Hilfe von Davits und Taljen an Land geschafft wurde. Die drei Freunde mußten zurückweichen, um die Arbeiten nicht zu stören. Sie taten das staunend, das prachtvolle Schiff bewundernd. Sie hatten auf ihrer Reise den Ohio hinunter viele Raddampfer gesehen, aber keiner war so riesig, prächtig und eindrucksvoll gewesen wie die QUEEN OF NEW ORLEANS. Gewiß, in den Häfen von Hamburg und New York hatte es weitaus größere Schiffe gegeben. Aber die waren für die Fahrt über den weiten Atlantik gebaut worden. Der zuckerweiße Schaufelraddampfer, der jetzt vor ihnen lag, wirkte für ein Flußschiff geradezu gewaltig.
Aber es war ja auch ein gewaltiger Fluß, auf dem er verkehrte. Der Mississippi, was in der Sprache der Indianer Vater der Gewässer bedeutete, war nicht nur der größte Fluß des großen nordamerikanischen Kontinents, sondern mit seinen 4300 Meilen auch der längste Fluß der Welt. Über fünfzig mit Dampfschiffen befahrbare Nebenflüsse - und einige hundert, in die man nur mit flachen Kielbooten oder Prahmen vordringen konnte -, speisten ihn von seinem Ursprung bei Itasca in Minnesota bis zu seiner Mündung im Golf von Mexiko mit ihren Wassermassen. Die Auswanderer hatten sich von einem aus der Nähe von Köln stammenden und jetzt in Cairo lebenden Händler sagen lassen, daß der Mississippi fünfundzwanzigmal soviel Wasser mit sich führte wie der Rhein. So beeindruckend wie seine Länge war auch seine Breite, die an einigen Stellen mehrere Meilen betrug. Hier bei Cairo war er immerhin eine Meile breit, was das gegenüberliegende Ufer für das bloße Auge so weit entfernt erscheinen ließ wie einen anderen Kontinent.
Der Fluß war nicht nur groß, sondern auch schmutzig, wenngleich eingefleischte Mississippi-Schiffer schworen, das schlammige Flußwasser sei die nahrhafteste und gesündeste Flüssigkeit der Welt. Darin stand er seinem größten Nebenfluß, dem Missouri, was auf indianisch Schlammfluß heißt, kaum nach.
Als sich die drei Auswanderer Cairo auf einem Militärdampfer genähert hatten, war ihnen der Mississippi aus der Ferne wie ein unendlich breites, silbern glänzendes Band erschienen. Aber je näher sie gekommen waren, desto mehr war der Silberglanz in ein schmutziges, gelbliches Braun übergegangen. An der Stelle, wo der Ohio in den Mississippi floß, fiel das besonders auf. Das klare Wasser des Ohio weigerte sich schlichtweg, sich mit den schmutzigen Fluten des größeren Stromes zu vermischen, und floß eine ganze Strecke als klarer, sauberer Fluß im Fluß deutlich unterscheidbar neben den gelbbraunen Wassern her.