Sie preßte Jamie an sich, stieß die Kabinentür auf und lief über den langen, verlassenen Korridor hinauf auf Deck. Dort bot sich ihr ein Bild, dessen Schrecken sich jeder Beschreibung entzogen. Die beiden anderen Schiffe, deren Untergang sie erlebt hatte, waren im Verhältnis zur QUEEN OF NEW ORLEANS klein gewesen. Auf ihnen hatten sich nur ein paar Dutzend Leute befunden, hier waren es ein paar hundert. Überall um sie herum war Blut, waren Schreie, Hilferufe und Verstümmelungen.
In Scharen sprangen die Menschen über Bord, versuchten sich ins verhältnismäßig flache Wasser der Sandbank zu retten. Aber auch dort war die Strömung sehr stark, riß viele mit sich, Männer, Frauen und Kinder, um sie erst als Leichen wieder freizugeben.
Ein Hoffnungsschimmer war flußaufwärts aufgetaucht, wo die QUEEN OF ST. LOUIS nur hundert Yards entfernt lag. Weiter traute sie sich nicht heran aus Angst, das Feuer könnte auf sie übergreifen. Aber sie ließ sämtliche Boote zu Wasser, die zu dem brennenden Wrack fuhren. Nur der Umstand, daß dieses zum größten Teil auf der Sandbank lag, verhinderte ein schnelles, vollständiges Sinken. Einige Schiffbrüchige versuchten, zu dem anderen Schiff zu schwimmen, aber die meisten kamen nicht gegen die Strömung an.
Auf ihrer Suche nach einer Rettungsmöglichkeit stand Irene plötzlich vor einem am Boden liegenden Mann, dessen Brust von einem abgerissenen Geländerstück wie von einem Pfahl durchbohrt war. Die aufgerissenen Augen des Mannes waren im Tod erstarrt. Kapitän Homer F. Wilcox war es erspart geblieben, die vollständige Vernichtung seines Schiffes mitzuerleben.
*
Devlin und Jacob waren in dem ersten Rettungsboot, das die Reste der QUEEN OF NEW ORLEANS erreichte. Auch Martin wollte mitkommen, um Irene und Jamie zu suchen, aber er mußte einsehen, daß er mit nur einem einsatzfähigen Arm eher eine Belastung war.
Das Boot war mit hilfesuchenden, teilweise schrecklich zugerichteten Menschen angefüllt, noch ehe es das Wrack ganz erreicht hatte. Aber die Aufnahme von Menschen war nicht seine einzige Funktion. Es führte ein dickes, an der QUEEN OF ST. LOUIS befestigtes Tau mit sich, das zwischen beiden Schiffen so gespannt werden sollte, daß es auf der größten Strecke über das flache Wasser der Sandbank führte. Das sollte den Menschen ermöglichen, sich zur QUEEN OF ST. LOUIS hinüberzuhangeln, da die Anzahl der Rettungsboote nicht ausreichte, in so kurzer Zeit alle Schiffbrüchigen zum anderen Schiff zu bringen.
Jacob und Devlin sprangen beim Wrack ins Wasser und nahmen das Tauende mit sich, während das jetzt vollbesetzte Ruderboot sich auf den Rückweg machte. Die beiden Männer kämpften sich durch die Strömung zu dem durch die Explosionen auf die Sandbank geschleuderten Heck des Wracks durch, wo ein Teil der Ruderblätter aus dem Wasser ragte. An ihnen befestigten sie das Tau und kletterten dann an Bord des brennenden Schiffes.
Sie machten die Menschen auf das Tau aufmerksam, aber nur wenige schienen in ihrer Panik diese Rettungsmöglichkeit zu begreifen. Die meisten sprangen ins Wasser und versuchten, zu einem der hoffnungslos überfüllten Ruderboote durchzukommen.
Und dann standen Jacob und Devlin vor Irene, die kaum glauben konnte, wen sie vor sich sah, wähnte sie die Männer doch immer noch auf der Insel Devil's Head. Sie brach in ein erleichtertes Schluchzen aus, und Jacob schloß sie in seine Arme, genoß die Wärme ihres Körpers und das Schreien des kleinen Jungen, das zeigte, daß er noch am Leben war.
»Wir müssen zurück!« schrie Devlin gegen den infernalischen Lärm an. »Sonst fliegen wir noch alle in die Luft!«
Er hatte recht. Bugwärts explodierte gerade ein weiterer Kessel, wobei Glut, Holz, Eisen und Menschen in alle Richtungen geschleudert wurden.
»Am besten springen wir ins Wasser«, schlug Jacob vor und nahm Irene das Baby ab. Sie sprangen über Bord und tauchten auf der Sandbank wieder auf, ganz in der Nähe des Taues.
Als sie zu dem Tau schwammen, hörte Devlin plötzlich jemanden seinen Namen rufen. Er wandte sich um und sah ganz in der Nähe LaGrange und Prescott im etwas seichteren Wasser stehen. Letzterer stürzte sich in die Fluten und schwamm auf den Spieler zu.
Als Devlin den Schatten unter Wasser auf sich zuschießen sah, warf er sich mit einem Sprung zur Seite. Das rettete ihm das Leben, denn Prescott stieß mit einem Messer in der Rechten aus dem Wasser hervor.
Vielleicht das Messer, mit dem er Jim getötet hat! schoß es durch Devlins Kopf.
Bevor LaGranges Leibwächter einen neuen Angriff starten konnte, warf sich Devlin auf ihn. Sie rangen miteinander, bis Prescotts Körper plötzlich schlaff wurde. Sein eigenes Messer steckte in seiner Brust.
Devlin schwamm auf LaGrange zu, der das Geschehen entsetzt mitverfolgt hatte. Als sein Feind neben ihm auftauchte, wollte der Plantagenbesitzer ihm einen Faustschlag versetzen. Der Spieler war schneller und betäubte LaGrange durch einen Hieb an die Schläfe. Das Wasser, in das er fiel, brachte den grauhaarigen Mann schnell wieder zu sich.
»Kommen Sie mit, LaGrange!« befahl Devlin und zeigte auf das Seil. »Ich rette Ihnen das Leben, damit ich zusehen kann, wie es Ihnen vom Henker genommen wird!«
Sie arbeiteten sich an dem Tau zur QUEEN OF ST. LOUIS vor, erst Jacob mit dem Kind, dann Irene, LaGrange und schließlich Devlin.
Auf der Hälfte des Weges schrie der Plantagenbesitzer plötzlich auf und verschwand im Wasser. Etwas wälzte sich dort mit solcher Gewalt in den tieferen Fluten, daß das Wasser aufschäumte. Ein grüngeschuppter Schwanz streckte sich für Sekunden in die Luft und verschwand wieder im Fluß.
Jacob dachte an die drei großen Kisten, bei deren Verladung er in Cairo zugegen gewesen war. »Die Alligatoren aus dem Frachtraum! Einer von ihnen muß freigekommen sein und hat LaGrange erwischt!«
»Er hat sich den Richtigen ausgesucht«, murmelte Devlin.
An der Stelle, wo eben der Schwanz des großen Tieres erschienen war, wurde jetzt das Wasser von einer roten Wolke getrübt. Sie würden LaGrange niemals wiedersehen, jedenfalls nicht lebend.
Jacob, Irene und Devlin setzten ihren beschwerlichen Weg, der jetzt von vielen Schiffbrüchigen eingeschlagen wurde, zur QUEEN OF ST. LOUIS fort. Sie erreichten das Schiff unbehelligt.
»Was machen Sie jetzt, wo LaGrange tot ist?« fragte ein durchnäßter und erschöpfter Jacob einen nicht minder durchnäßten und erschöpften Devlin. »Werden Sie Ihre Plantage zurückbekommen, ohne ihn oder Prescott als Zeugen?«
»Ich werde es zumindest versuchen. Vielleicht reichen die Aussagen von Potter und Tomlinson aus.«
Als die Sonne im Westen versank, waren etwa zwei Drittel der Menschen von der QUEEN OF NEW ORLEANS gerettet. Alle anderen hatte der Mississippi zu sich geholt.
Oder dessen Geist? Gab es den, oder war das Flußlicht auf eine natürliche Erklärung zurückzuführen?
Jedenfalls fühlten sich Jacob, Irene, Martin und auch Devlin erleichtert, als in dieser Nacht kein geheimnisvolles Licht im Wasser zu sehen war.
Sie sahen nur den schwarzen Rauch des ausbrennenden Wracks, der wie ein Trauerflor über dem Mississippi lag.
ENDE
Und so geht das Abenteuer weiter
Die Reiter kamen mit dem ersten Glimmen der Morgenröte. Ihre geisterhaften Umrisse lösten sich aus dem Unterholz, als sich die Pferde langsamen Schrittes den prächtigen Gebäuden von Starcrest näherten. Noch behielt die Dunkelheit der nächtlichen Schattenwelt die Oberhand über die zaghaft tastenden Sonnenstrahlen und hüllte die drei Dutzend Reiter in ihr kaum durchdringbares Tuch. Sie verbarg die unrasierten Gesichter der Männer, die teils versteinert wirkten, teils haßerfüllt und teils erregt. Eins aber war allen Gesichtern gemein: In ihnen stand der Tod geschrieben.