Während die Wettbegeisterten noch begierig Geld einforderten oder widerwillig in fremde Hände zählten, machte sich eine neue Art von Geschäftemachern an der Anlegestelle der QUEEN OF NEW ORLEANS breit. Verkäufer aller möglichen und unmöglichen, nützlichen und unnützen Artikel bauten ihre Stände auf, die oft nur aus einem Bauchladen bestanden. Schuhputzer boten den feinen Herrschaften, die jetzt an Land gingen, unterwürfig ihre Dienste an. Gaukler und Taschenspieler versuchten, etwas von dem locker sitzenden Geld der Passagiere und Schaulustigen für sich abzuzweigen.
Einer dieser Taschenspieler hatte es Martin angetan. Ein kleiner, scheinbar erlesen gekleideter Mann, dessen teure Kleidung beim näheren Hinschauen allerdings verriet, daß sie zu oft getragen und zuwenig gepflegt wurde. Er hatte ein schmales, spitz zulaufendes Gesicht, das an eine Maus oder eine Ratte erinnerte und von großen Augen beherrscht wurde, die er ganz nach Belieben von links nach rechts, von oben nach unten und zurück kullern lassen konnte. Vor sich hatte er eine leere Kiste aufgebaut, auf der er drei mit dem Rücken nach oben zeigende Spielkarten hin und her schob; eine KreuzSieben, eine Kreuz-Acht und eine Herz-Dame.
»Herz-Dame ist Trumpf«, verkündete er mit einer heiser und gleichwohl laut klingenden Stimme. »Ganz wie im richtigen Leben. Wer die Herz-Dame findet, findet das Glück. Versuchen Sie Ihr Glück, Ladies und Gentlemen. Setzen Sie einen halben Dollar oder zehn. Ich halte dagegen. Der Sieger bekommt nicht nur die Herz-Dame, sondern auch das Geld. Versuchen Sie Ihr Glück!«
Dabei mischte er die mit dem Bild auf der Kiste liegenden Karten wild durcheinander, legte sie in eine Reihe und deckte schließlich eine, die er wohl für die Herz-Dame hielt, auf. Manchmal war sie es, noch öfter aber auch nicht. Nach Martins Meinung hatte der Spieler kein allzu gutes Auge, denn der Auswanderer hatte in Gedanken jedesmal auf die richtige Karte getippt.
Ein bärtiger, nach einem Farmer aussehender Mann in leicht schmuddeliger Kleidung, der das Treiben des Spitzgesichtigen ebenfalls eine ganze Weile beobachtet hatte, trat an den Tisch heran, kramte umständlich in seinen Taschen herum und förderte eine zerknitterte Fünfzig-Cent-Note zutage, die er etwas verschämt glattstrich und auf den provisorischen Spieltisch legte.
»Fünfzig Cent darauf, daß ich die schöne Dame find', Mister«, quetschte er undeutlich zwischen seinen mit einem Priem Kautabak beschäftigten Zähnen hervor.
»Das ist ein Wort, Sir«, freute sich der Spieler darüber, endlich einen Kunden gefunden zu haben. Er drehte alle drei Karten um, und die Herz-Dame lag zu seiner Linken.
Dann legte er die Karten wieder mit den Bildern nach unten. »Jetzt müssen Sie höllisch gut aufpassen, Sir, damit Sie meinen flinken Händen folgen können!«
»Fangense schon an«, verlangte der Farmer.
»Ihr Wunsch ist mir Befehl«, verkündete der Spieler und begann mit dem Mischen der Karten.
So schnell seine Hände auch waren, in Martins Augen waren sie viel zu langsam. Der stämmige Bauernsohn mit dem runden, offenen Sommersprossengesicht und dem rot-blonden Haar bildete sich ein, die Herz-Dame keine Sekunde aus den Augen gelassen zu haben.
Als der Spieler fertig war, die drei Karten ruhig vor ihm lagen und er den Farmer aufforderte, seine Wahl zu treffen, wartete Martin gespannt, auf welche Karte der Bärtige zeigen würde. Der Auswanderer war sich sicher, daß der Trumpf in der Mitte lag.
Die Hand des Farmers schwebte über der Kiste, ging mal zur einen, mal zur anderen Seite. Als sie über der mittleren Karte anhielt, wollte Martin ihm voller Spannung schon zurufen, auf diese Karte zu zeigen. In der letzten Sekunde hielt er sich zurück, weil das wohl kaum ein ehrlicher Gewinn für den Mann gewesen wäre. Aber zu Martins Enttäuschung wanderte die Hand weiter nach rechts, stieß nach unten - und schwenkte im letzten möglichen Augenblick doch noch um auf die Karte in der Mitte.
Martin atmete auf, als ginge es um sein eigenes Geld. Er war sich dessen nicht bewußt, aber die am ganzen Mississippi wohlbekannte Krankheit namens Spielfieber hatte ihn erfaßt.
Der spitzgesichtige Spieler sah den Farmer zweifelnd an. »Sind Sie sicher, Sir, daß es diese Karte sein soll?«
»Sicher bin ich sicher«, antwortete der Bärtige und spuckte einen schwarzen Strahl neben die Kiste auf den Kai.
»Wie Sie wollen«, erwiderte der Spieler mit einem Achselzucken und deckte die mittlere Karte auf.
Es war die Herz-Dame.
Die Augen im Gesicht des Bärtigen leuchteten auf, während die im Gesicht des Spitzgesichtigen überrascht von einer Ecke in die andere rollten. Damit schien der Spieler wirklich nicht gerechnet zu haben und legte mit fahrigen Bewegungen eine zweite Fünfzig-Cent-Note auf den zerknitterten Geldschein des Farmers.
»Sie sind ein Kind des Glücks, Sir«, stellte der Spieler fest, als er sich wieder gefaßt hatte. »Wie sieht es aus, wagen Sie noch ein Spiel?«
»Aber sicher doch«, brummte der Farmer, der Gefallen an dieser leichten Art des Geldverdienens zu finden schien. »Ich setz', was auf der Kiste liegt.«
Während der Spieler wieder die Karten mischte, wuchs die Menge der Neugierigen um seinen Kistentisch allmählich an. Martin sicherte sich einen Platz in der vordersten Reihe und war sich diesmal sicher, daß die Herz-Dame die Karte war, die - von ihm aus gesehen - rechts außen lag. Der Farmer benötigte weniger Zeit zum Überlegen und tippte auf die von Martin favorisierte Karte. Wieder lagen beide richtig, und schon hatte der Bärtige aus seinem halben Dollar zwei ganze gemacht.
Kein Wunder, daß er sich zu einem dritten Spiel hinreißen ließ und dafür den auf der Kiste liegenden Einsatz um drei weitere Dollar, die er in zerknitterten Scheinen aus den Tiefen seiner Jacken- und Hosentaschen zusammensuchte, erhöhte. Fünf Dollar mußten für den Mann ein Menge Geld sein.
Vielleicht alles, was er bei sich trug.
Erneut war es für Martin ein leichtes, die Herz-Dame im Auge zu behalten; sie landete wiederum in der Mitte. Er war überrascht, als der Farmer auf die Karte links außen tippte. Und der Farmer war überrascht, als der Spieler die Kreuz-Acht aufdeckte.
»Pech«, meinte der Mann mit dem Nagetiergesicht und drehte dann die mittlere Karte um. »Ich hätte diese hier genommen.«
Es war, wie Martin vermutet hatte, die Herz-Dame.
Mit bedauerndem Gesichtsausdruck strich der Spieler die fünf Dollar ein. »Diesmal haben Sie nicht so gut aufgepaßt, Sir. Versuchen Sie es noch einmal, und Sie werden sehen, das Glück kommt zu Ihnen zurück.«
»Nein«, sagte der Farmer mit leiser Stimme. »Ich hab' nichts mehr.«
Er zog sich vom Stand des Spielers in die zweite Reihe zurück.
»Das war Pech für den Gentleman, aber zweimal hat er gewonnen«, rief der Spieler und sah in die Runde, die sich um ihn gebildet hatte. »Wer will es wagen, mit der Kraft seiner Augen und mit Fortunas Hilfe schnell sein Glück zu machen?«
»Ich«, platzte es aus Martin heraus, und er stand direkt vor der Kiste, ehe er noch die Bewegung seiner Beine registrierte. Jacob und Irene wollten ihn zurückhalten, aber es war schon zu spät. Martin hatte bereits einen Zwei-Dollar-Schein aus seiner Geldbörse genommen und zuversichtlich auf die Kiste gelegt.
Der Spieler lobte den Mut seines Gegenübers und begann mit dem Mischen der Karten. Für andere Leute mochte er schnell sein, für Martin war er langsam. Er hatte die Herz-Dame stets im Blickfeld und tippte keine Sekunde nach Beendigung des Mischens selbstsicher auf die linke Karte.